Wolkengaenger
Reis, ein paar zerkochten Karotten und einem
großen Stück Fleisch. Daneben legte sie je einen Aluminiumlöffel. Messer und Gabel bekamen die beiden nicht, und von den Schwestern,
die mit verschränkten Armen herumstanden, war keine Hilfe zu erwarten. Wanja flüsterte Elvira zu: »Schau mal, dein Fleisch.
Es sieht aus wie dein brauner Stiefel.« Elvira verkniff sich ein Kichern.
Die beiden rührten ihr Essen nicht an. Stattdessen starrten sie gebannt zu den Nebentischen, an denen Kinder liebevoll von
ihren Müttern mit selbstgemachten Suppen, Teigtaschen und Frischkäseplätzchen gefüttert wurden. Man hatte es den Müttern sogar
gestattet, das mitgebrachte Essen in der Kantine aufzuwärmen, und der Duft war unwiderstehlich. Während sie beobachteten,
wie eine Mutter ihrem Sohn einen Apfel schälte und ihn dann mit kleinen Stückchen fütterte, schoben Wanja und Elvira ihr Essen
auf den Tellern hin und her und hofften, dass eine der Mütter sich ihrer erbarmen würde. Doch jene Frau, die ihnen manchmal
vorlas oder sogar etwas Süßes schenkte, war heute nicht da. Nach zehn Minuten wurden die Teller mit dem kalt gewordenen Essen
abgeräumt, und die Schwestern schoben die beiden zurück in ihren Flur und steckten sie in ihre Gitterbetten.
»Hast du gesehen, was Saschas Mutter heute für ihn zu essen dabeihatte?«, fragte Wanja.
»Ja. Schokolade!«, antwortete Elvira.
»Red keinen Unsinn. Mamis geben ihren Kindern mittags keine Schokolade zu essen.«
|170| »Aber es war in Silberpapier eingewickelt. Es muss also Schokolade gewesen sein.«
»Es war aber weiß. Für mich sah es aus wie Käse.«
»Wenn ich eine Mutter hätte«, begann Elvira, »würde sie mich mittags Schokolade essen lassen. Sie würde mir alles geben, was
ich will.«
»Und wenn ich eine Mutter hätte, würde sie mir einen Kuchen backen«, sagte Wanja. »Und zwar einen riesigen. Mit vielen Äpfeln
drin … und … Salami.«
»Salami kann man nicht backen, du Dummkopf.«
Wanjas Gesicht nahm einen spitzbübischen Ausdruck an. Dies war der Auftakt zu einem ihrer Lieblingsspiele. Noch immer auf
dem Rücken liegend, begann er, abwechselnd mit seinen Schultern zu wackeln – er ahmte den Gang eines erwachsenen Mannes nach.
Er warf einen Blick durch die Gitterstäbe seines Betts und freute sich zu sehen, dass Elvira es ihm gleichtat. Sie waren nun
zwei bedeutende Ärzte auf Visite.
»Dr. Elvira, wie geht es dem Patienten Sljozkin heute?«, fragte Wanja im gebieterischsten Tonfall, den er zustande brachte.
Elvira stieß einen Freudenschrei aus, als sie den Namen des ungeliebten Arztes hörte.
»Sehr schlecht«, sagte sie mit tiefer Stimme, schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Er macht nicht die geringsten Fortschritte.«
»Nicht die geringsten? Aber er hat doch gestern zwei Spritzen bekommen.«
»Oh, er ist ein sehr schwieriger Fall«, sagte Elvira. »Was meinen Sie, Doktor? Sollten wir ihm drei Spritzen geben?«
»Das reicht nicht«, verkündete Wanja. »Ich verordne Sljozkin …« Er machte eine dramaturgische Pause. »… fünf Spritzen täglich.«
Elvira begann zu kichern, dann brachen beide in Gelächter aus.
»Bring mich nicht noch mehr zum Lachen, Wanja. Ich muss aufs Klo. Und du weißt ja, wie lange es dauern kann, bis die Schwester
kommt.«
|171| »Dann werde ich dir jetzt etwas vorlesen.« Er griff nach den Gitterstäben und zog sich in eine sitzende Position, wobei er
vor Schmerz zusammenzuckte. Dann streckte er eine Hand aus und nahm ein zerfleddertes altes Buch vom Nachtschrank, aus dem
er daraufhin vorgab vorzulesen.
»Es war einmal ein Schmied, der lebte mit seiner Frau und seiner wunderschönen Tochter Wassilissa zusammen.«
»Wie sah Wassilissa aus?«
»Unterbrich mich nicht. Ich lese.« Er versuchte, wie ein strenger Erwachsener zu klingen, und blickte verstohlen zu Elvira.
»Sie hatte schönes, langes, dunkles Haar. Doch eines Tages geschah etwas Schreckliches. Ihre Mutter starb. Und ihr Vater heiratete
eine böse Stiefmutter. Die war sehr böse zu Wassilissa. Immer bevorzugte sie ihre beiden eigenen Töchter. Der Schmied musste
fortgehen und sich Arbeit suchen. Sie waren so arm, dass sie am Rand eines dunklen Waldes lebten. Als er sich auf den Weg
machte, sagte er seiner Frau, dass sie die Kinder nicht in den Wald gehen lassen dürfe. Dort lebte nämlich Baba Jaga, die
böse Hexe. Und sie fraß am liebsten Kinder.«
»Wie sah Baba Jaga aus?«
»Ihre Nase war so
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