Wolkengaenger
zusammenzusammeln, die sie weiterhin benötigte. Sie ahnte nicht, welch langer und steiniger
Weg noch vor ihr lag.
Zehn Tage nach Lindas Rückkehr nach Großbritannien erhielt Alan am frühen Morgen einen Anruf aus der Londoner Redaktion des
Telegraph
. »Ihr Junge, dieser Wanja, ist heute bei uns auf der Titelseite. Wenn die Reaktionen darauf nur annähernd so verlaufen wie
beim letzten Mal, werden wir in den nächsten Wochen keine ruhige Minute haben.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte Alan dem Anrufer. »Das war das letzte Mal, dass ich über ihn geschrieben habe.
Er ist so gut wie auf dem Weg nach England. Von da an kann die Redaktion vor Ort über ihn berichten.«
Eine halbe Stunde später rief eine vollkommen überwältigte Linda bei Alan an. »Das Foto ist riesig. Es zeigt Wanja und Andrej
mit Wika und mir im Hintergrund. Wanja sieht aus wie ein Engel mit seinen Locken.« Sie konnte gar nicht fassen, dass die Redaktion
Wanja auf die Titelseite gesetzt hatte und nicht Tony Blair, der kurz vor seinem Einzug in die 10 Downing Street stand, oder
den Mann, dem es beinahe gelungen wäre, in den Buckingham Palace einzudringen.
Weiter hinten im
Telegraph
waren noch mehr Fotos abgedruckt, |179| darunter ein Bild von Wanja vor der Anstalt in Filimonki, auf dem er mit rasiertem Schädel und gerunzelter Stirn in die Kamera
schaut. Der Artikel schloss mit der Angabe eines Postfachs, an das die Leser Spenden schicken konnten.
Die Resonanz auf den Artikel war gewaltig und die Spendenbereitschaft in allen Bevölkerungsschichten enorm: Fünfpfundnoten
von ärmeren Rentnern, Schecks von betuchteren Lesern. Alle wollten ihren Teil dazu beitragen, dass Wanja ein neues Leben erhielt.
Während Wanja in England eine kleine Berühmtheit wurde, verlief in Russland medizinisch gesehen alles nach Plan. Im Sommer
wurde er für eine weitere Operation vom Sanatorium Nr. 26 zurück ins Krankenhaus Nr. 58 verlegt. Nach insgesamt neun Monaten
Krankenhaus und Sanatorium im Wechsel stand im September dann seine Rückkehr ins Babyhaus an.
Tagelang überlegte Sarah, womit sie sich bei den Ärzten und Schwestern dafür bedanken könnte, dass sie sich um Wanja gekümmert
hatten, und – was noch wichtiger war – dass sie ihn im Falle einer Weiterbehandlung gern wieder aufnehmen würden. Bislang
hatte sie dem Krankenhaus einen Gymnastikball geschenkt, und ein Arzt hatte einen Fernseher für sein Büro bekommen. Wika schlug
vor, Fünfzigdollarnoten in Umschläge zu stecken und diese an das Personal zu verteilen. Von der Mutter eines Jungen mit infantiler
Zerebralparese erfuhren sie, dass Bargeld nur von Kindern erwartet wurde, die zu Hause bei ihren Eltern lebten, nicht aber
von Kindern, die sich in der Obhut des Staates befanden, und dass Tee und Kekse vollkommen ausreichten.
Daraufhin machten sich Alan und Sarah frühmorgens auf den Weg in die Konditorei des Hotels »Prag«. Mit seinen Kronleuchtern
und den Marmorböden hatte das Geschäft seinerzeit sowjetischen Glanz ausgestrahlt, doch nun waren die Böden abgelaufen und
schmutzig, und die Einlegearbeiten in den Tischen ruiniert. Doch es tat sich etwas. Eine glänzende Espressomaschine war eingetroffen
und spuckte nun Kaffee |180| in Plastikbecher. Merkwürdigerweise schmeckte der Kaffee noch immer genau wie zu Sowjetzeiten – einschließlich des Bodensatzes.
Sarah und Alan legten ihr gesamtes Bargeld zusammen und kauften eine Prager Torte, zwei riesige Kartons Schokolade aus der
soeben privatisierten Schokoladenfabrik »Roter Oktober« sowie Schokoriegel für die Kinder.
Diese Geschenke waren für die Krankenschwestern bestimmt, doch noch immer hatten sie keine Idee, was sie dem Chirurgen schenken
sollten. Sie wussten, dass er ein äußerst jähzorniger Mann mit einem teuren Geschmack war, doch leider erfuhren sie zu spät
von seiner Vorliebe für Zigarren. Da Wodka inzwischen als etwas galt, das man höchstens dem Hausmeister schenkte, mussten
sie sich etwas anderes, ganz Besonderes einfallen lassen. Also lief Alan zum nächstgelegenen Bankautomaten, kehrte mit einem
dicken Bündel Banknoten zurück und erwarb eine Flasche Rémy Martin. Damit würde der Chirurg Wanja zweifellos in guter Erinnerung
behalten und ihn, wenn nötig, wieder in sein Krankenhaus aufnehmen.
Zufrieden mit ihren Einkäufen fuhren sie weiter ins Krankenhaus. Sie hatten mit Wika verabredet, sich draußen zu treffen,
doch sie kam wie immer zu
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