Wolkengaenger
Verbänden steckten, in
den Flur geführt.
»Elvira, komm her, du sitzt neben mir!«, rief Wanja seiner Freundin zu.
|167| Ähnlich einem Roboter setzte Elvira entschlossen ein steifes Bein vor das andere, dicht gefolgt von Emily, die sie an den
Händen und damit im Gleichgewicht hielt. Als Elvira das Geburtstagskind erreicht hatte, gab Wika ihr einen Strauß Nelken in
die Hand, den sie Wanja trotz der Schmerzen, die das Stehen ihren bandagierten Beinen verursachte, anmutig überreichte.
Wie aus dem Nichts kamen auf einmal ein Dutzend Kinder herbei. Sie alle trugen Strumpfhosen und alte ausrangierte Kleidung.
Unter den Krankenschwestern hatte sich herumgesprochen, dass ein kleines Fest für die Waisenkinder gegeben wurde, woraufhin
sie die Waisen aller Stationen zu Wanja hinaufschickten.
Sarah blickte sich unruhig um. »Genug zu essen haben wir, aber es fehlen Stühle.« Sie schickte Barney los, um die anderen
Flure nach Stühlen abzusuchen.
Gerade als sich die Kinder auf die Kekse stürzen wollten, klatschte Wika in die Hände und rief: »Halt! Bevor wir essen, singen
wir alle zusammen ›Karawaj‹!«
Kinder und Erwachsene bildeten einen Kreis um Wanja und begannen, um ihn herumzulaufen. Dabei stimmten sie das traditionelle
russische Lied an, das von einem großen Laib Brot für das Geburtstagskind handelte.
»So groß!«, sang Wika und riss die Arme nach oben. Auch die Kinder machten sich so lang, wie sie nur konnten.
»So klein«, sang sie weiter und ging in die Hocke, was die anderen ihr sofort nachtaten.
»Und so breit.« Alle streckten die Arme weit zur Seite. In diesem Moment wurde ein weiteres Kind, das gerade schüchtern den
Flur betreten hatte, in den Kreis aufgenommen.
»Und so eng.« Nun drängten sich alle ganz dicht an Wanja heran und sangen: »Liebes, liebes Brot, sag, wen du am liebsten hast!«
Mit Wikas Hilfe, die ihm soufflierte, sagte Wanja: »Ich hab euch alle lieb, aber am liebsten hab ich …« Er hielt inne und
sah sich im Kreis um. Die Kinder hielten vor Spannung den Atem an.
|168| »Elvira.«
Die beiden grinsten sich an und tauschten die Plätze. Jetzt war Elvira in der Mitte, wo sie weiterhin von Emily gestützt wurde.
Und so ging es weiter, bis schließlich jedes Kind einmal in der Mitte gewesen und die Rolle des Brotes eingenommen hatte.
Gegen Ende konnten auch die Ausländer den Text mitsingen.
Danach wurden die Kinder zu ihren Plätzen gebracht, und Wika dekorierte ihren Kuchen mit Kerzen, die Wanja auspusten sollte.
Bedächtig blies Wanja eine Kerze nach der anderen aus. Schnell zündete Wika sie noch einmal an und erklärte ihm, dass das
Geburtstagskind sie alle auf einmal auspusten müsse. Und diesmal blies Wanja mit einem einzigen tiefen Schnaufer alle sieben
Kerzen aus. »Nun darfst du dir etwas wünschen, Wanja«, sagte Sarah lächelnd. »Was ist ein Wunsch?«, fragte Wanja und sah sie
mit großen Augen an. Sarah umarmte ihn und erklärte es ihm. Dann schnitt sie den Kuchen an.
Nachdem alles bis auf den letzten Krümel verputzt war, holte Sarah eine Tasche voller einzeln verpackter Geschenke hervor
und reichte Wanja das größte. Mit leuchtenden Augen riss er das Papier auf und förderte ein Auto, einen grünen Jaguar, zutage,
auf den Sarah in gelben Buchstaben seinen Namen geschrieben hatte – ebenfalls, um zu verhindern, dass er gestohlen wurde.
Schließlich meldete sich ein kleines Mädchen zu Wort und fragte: »Kann ich ihm auch ein Geschenk geben?«, woraufhin Sarah
ihr ein kleines Päckchen reichte. Mit einem Mal rissen sich all diese Kinder, die noch nie in ihrem Leben etwas eigenes besessen
hatten, darum, Wanja ein Geschenk überreichen zu dürfen. Auf wackeligen Beinen torkelten sie auf ihn zu und brachten ihm bunte
Päckchen, und Wanja bedankte sich bei jedem Einzelnen von ihnen.
Im Anschluss sangen alle »Happy Birthday« auf Englisch, und auf Wanjas besonderen Wunsch legte Barney eine Kassette mit afrikanischer
Popmusik ein. Wikas Traum war in Erfüllung |169| gegangen. Die Party war ein voller Erfolg. Als Barney und Emily zwei Tage später zu Besuch ins Krankenhaus kamen, waren alle
Geschenke verschwunden, doch die Erinnerungen an seine erste Geburtstagsparty konnte Wanja niemand mehr nehmen.
Wartend saßen Wanja und Elvira in der Krankenhauskantine an einem Tisch für die Waisenkinder. Es war Zeit fürs Mittagessen.
Eine Krankenschwester brachte jedem von ihnen einen Teller mit einem Häufchen
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