Wolkengaenger
Abschied. Im Babyhaus angekommen, wurde er von keiner der Angestellten
begrüßt. Niemand sprach auch nur ein einziges Wort mit ihm. Diesmal schreckte Adela ausnahmsweise einmal nicht davor zurück,
ihre Belegschaft zurechtzuweisen: »Im Krankenhaus hat man ihm beigebracht, zu laufen, und alle haben sich von ihm verabschiedet.
Und Sie – Sie können bei seiner Rückkehr noch nicht einmal hallo zu ihm sagen.« Wika war vor Staunen der Mund offen stehengeblieben.
Trotz Adelas neu gewonnenem Durchsetzungsvermögen und einer Fünfzigdollar-Spende, mit deren Hilfe sichergestellt |183| werden sollte, dass wenigstens eine der Physiotherapeutinnen des Babyhauses ihre Arbeit tat, änderte sich in Wanjas Leben
kaum etwas. Aus irgendeinem Grund wurde er erneut in Gruppe 6 untergebracht, einem Raum mit zwei- und dreijährigen Kindern
im Erdgeschoss. Wie immer hatte er auch hier niemanden, mit dem er sprechen konnte. Keine der Angestellten kümmerte sich um
die Fortsetzung seiner Therapie, und da sie nichts mit den Schienen, die ihm das Krankenhaus mitgegeben hatte, anzufangen
wussten, waren Wanjas Beine nach kürzester Zeit wieder erlahmt.
Noch am Abend des Tages, als Wanja aus dem Krankenhaus ins Babyhaus zurückgebracht worden war, rief Alan Linda in England
an, um ihr von den Neuigkeiten zu berichten: dass Wanja bereits zwei Mal an den Beinen operiert worden war und im Krankenhaus
unter Schmerzen begonnen hatte zu laufen und jetzt zurück im Babyhaus sei. Lindas Nachrichten aus England klangen weniger
vielversprechend. Sie hatte nicht geahnt, was eine Prüfung von Seiten der britischen Behörden sowohl finanziell als auch emotional
für sie und ihre Familie bedeuten würde. Zudem waren die britischen Sozialarbeiter nicht gewillt, das Verfahren zu beschleunigen,
nur weil das Kind dringend gerettet werden musste – ganz im Gegenteil. Linda hatte sogar den Eindruck, dass sie alles taten,
um Wanjas Adoption zu sabotieren. Die Kosten für die Prüfung beliefen sich auf insgesamt 3000 Pfund, und es würde Monate dauern,
bis alles abgeschlossen war. Die Sozialarbeiter selbst nannte sie gefühllos, querulantisch und unverfroren neugierig. Sie
hatten angekündigt, das Sexualleben aller Familienmitglieder auszuspionieren.
»Haben Sie mal darüber nachgedacht, die Sache auf die russische Art zu klären?«, fragte Alan in einem Versuch, sie aufzuheitern.
»Und wie sieht die aus?«
»Eine Flasche Kognak, ein bisschen Schokolade und Umschläge voller Dollarnoten. Damit bringt man hier die Dinge für gewöhnlich
zum Laufen.«
[ Menü ]
|184| 14.
MURMELTIERTAG
Oktober 1997
Inzwischen war Wanja beinahe acht Jahre alt und wartete noch immer darauf, dass sein Leben endlich begann. Seine Tage verbrachte
er wie eh und je an einem kleinen Holztisch sitzend, in einem Zimmer voller Kinder, die allesamt viel jünger waren als er.
Das einzige Kind, mit dem er sich unterhalten konnte, war ein Mädchen namens Julia, die, wie Andrej einst, mit ihm zusammen
am Tisch saß. Sie konnte nicht laufen, wusste aber eine ganze Menge Dinge und beantwortete bereitwillig all die Fragen, die
Wanja ihr stellte. Früher hatte sie mit ihrem Vater in einer Wohnung gelebt. Tagsüber nahm er sie mit zum Betteln in eine
Unterführung, wo sie den ganzen Tag still sitzen bleiben musste. Wenn er zwischendurch mal einschlief, konnte sie ein wenig
herumkrabbeln. Eines Tages wachte er nicht wieder auf, und dann war sie ins Babyhaus gekommen.
Am meisten gefielen Wanja ihre Geschichten über das Leben in einer Wohnung. Sie und ihr Vater hatten ein Bad ganz für sich
allein gehabt. Dort durfte sie in der Badewanne sitzen und den Wasserhahn aufdrehen, wann immer sie wollte. Neben ihrem Bett
gab es eine Lampe, die sie ganz allein an- und ausschalten konnte, was Wanja tief beeindruckte. Im Krankenhaus hatten ihn
Barney und Emily manchmal im Waschbecken planschen lassen, doch im Babyhaus durfte er nicht mit Wasser spielen. Und in seinem
ganzen Leben hatte er noch nie eine Lampe angeknipst. Als Julia das hörte, erklärte sie ihm, dass man sogar den Fernseher
nach Lust und Laune selbst an- und ausschalten könne, wenn man in einer Wohnung lebte, woraufhin Wanja sie mit großen Augen
anschaute. Und hungern |185| müsse man auch nie, erzählte sie weiter. Man könne so viel Brot haben, wie man wolle, da man einfach hinüber in die Küche
krabbeln und es sich vom Tisch nehmen dürfe.
Die Betten von Wanja und Julia
Weitere Kostenlose Bücher