Wolkengaenger
standen direkt nebeneinander. Abends lagen sie oft lange wach und unterhielten sich flüsternd
weiter. Wenn Julia dann eingeschlafen war, dachte Wanja über alles nach, was sie ihm erzählt hatte, und versuchte, es zu verstehen.
Wenn er dann damit fertig war, dachte er an all die Menschen, die er liebte, und überlegte, was sie gerade machten. Zunächst
war da Tante Walentina. Bei ihr brauchte er nicht lange zu überlegen: Sie war oben in Gruppe 2. Vor ihrem Dienst steckte sie
stets ihren Kopf zur Tür herein und sagte ihm, dass er nicht vergessen solle, laufen zu üben. Lange konnte sie jedoch nie
bleiben, da sie sich um die Kinder in Gruppe 2 kümmern musste.
Besonders gern dachte er an die aufregenden Dinge zurück, die er mit Barney und Emily erlebt hatte, als sie ihn im Krankenhaus
besucht hatten. Er musste Barney nur sagen, dass er mal musste, und schon brachte er ihn zur Toilette, wo Barney ihn am Wasserhahn
mit dem Wasser spielen ließ und er sein Gesicht und die Arme nass spritzen durfte. Einmal war er so nass geworden, dass Barney
ihn zurück in den Flur bringen und ein trockenes T-Shirt für ihn suchen musste. Die Krankenschwester wurde schrecklich wütend
und schrie Barney an. Doch zum Glück verstand Barney kein Wort von dem, was sie sagte, denn er war ja aus England, ebenso
wie Emily. Auch sie wurde oft von den Schwestern angeschrien, besonders, wenn sie Wanja in einem Rollstuhl mit nach draußen
nehmen wollte. Am schönsten war es, wenn Wanja rief: »Schneller, Emilia, schneller«, dann fing sie an zu rennen, und er rief:
»Noch schneller, Emilia«, und sie rannte noch schneller, und beide jauchzten vor Freude. Wenn sie dann nicht mehr konnte,
ließ sie sich neben dem Weg in den Schnee fallen und tat so, als wäre sie zu erschöpft, um sich zu rühren. Wie sie zusammen
gelacht hatten! Doch jetzt waren Barney und Emily wieder in England. Weit weg.
|186| Auch Andrej war weit weg, in Amerika. Dort hatte er eine Mama, einen Papa, einen Bruder und eine Schwester. Wanja stellte
sich Andrej in einer Wohnung vor, wo er sich mit seinem Bruder und seiner Schwester ein Bett teilte. Wenn er Hunger hatte,
krabbelte er einfach in die Küche und holte sich eine Scheibe Brot, und wenn Schlafenszeit war, war Andrej derjenige, der
das Licht ausschalten durfte.
Er dachte an den Tag, an dem Andrej aus dem Babyhaus fortgebracht worden war. Da war diese Frau gewesen, Linda, die ihn, Wanja,
umarmt und ihm neue Stiefel mitgebracht hatte. Sie war von weit her gekommen, extra um ihn zu besuchen. Und sie hatte gesagt,
dass sie wiederkommen würde. Doch wo blieb sie nur?
Dann war da noch Elvira. Auch sie war weit weg – zurück in ihrem Babyhaus. Er rief sich in Erinnerung, wie viel Spaß es ihnen
gemacht hatte, sich gegenseitig Angst einzujagen. Wenn Wika und ihre Freunde zu Besuch ins Krankenhaus gekommen waren, hatten
sie ihm Gedichte beigebracht und ihm vorgelesen. Sarah hatte jedes Mal mit jemand anderem zusammen vorbeigeschaut, alles Leute,
die ebenfalls von weit her kamen.
An all diese Menschen dachte Wanja, wenn er nachts in seinem Bett lag und nicht schlafen konnte. Dann übte er die lustigen
fremden Namen dieser Leute und erinnerte sich an alles, was sie zu ihm gesagt hatten. Und schließlich schlief er ein.
Eines Tages saß Wanja an seinem Tisch und hoffte auf einen Besuch von Wikas Freundin Asja. Sie würde ihm bestimmt die kleine
Holzleiter mit dem Affen mitbringen, der, wenn man ihn richtig befestigte, die Leiter eine Stufe nach der anderen hinunterklettern
konnte. Im Augenblick gab es jedoch nichts, worauf er sich konzentrieren konnte, außer auf das Gespräch, das zwei Angestellte
miteinander führten. Swetlana war in Gruppe 6 gekommen, um sich mit der Betreuerin über eine neue Konditorei zu unterhalten,
die gegenüber des Babyhauses eröffnet hatte.
»Können Sie sich das vorstellen?«, fragte sie. »Ein ganzes |187| Monatsgehalt für einen einzigen Kuchen! Wo soll das noch hinführen?«
Die beiden Frauen gingen dazu über, Babyhaus-Tratsch auszutauschen, und Wanja horchte auf, als er erkannte, dass sie über
etwas sprachen, das ihn betraf. Sie schienen vollkommen vergessen zu haben, dass er anwesend war.
»Diese Engländerin … die, die gesagt hat, dass sie ihn adoptieren würde – was ist aus ihr geworden?«, fragte die Betreuerin.
»Inzwischen sind bestimmt sechs Monate vergangen«, antwortete Swetlana. »Normalerweise reicht das für
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