Wolkengaenger
musste lachen, als sie Wanjas erstaunten Blick sah, und drückte ihn an sich. Es war ein bittersüßer
Moment. Von nun an würde er nicht mehr im Zentrum ihrer Bemühungen stehen können. Sie würde ein eigenes Kind haben, um das
sie sich kümmern musste.
Am nächsten Tag nahmen Sarah und Wika im Büro des
Daily Telegraph
einen Schreibtisch mitsamt Computer in Beschlag. Linda hatte vollkommen aufgelöst angerufen und erzählt, dass das von den
örtlichen Behörden eingesetzte Adoptionsgremium nun jederzeit seine Empfehlung darüber abgeben würde, ob sie als Adoptivmutter
geeignet war. Neun Monate hatte es gedauert, um an diesen Punkt zu gelangen.
Noch immer hatte Linda Zweifel, ob die Sozialarbeiter auf ihrer Seite standen, daher brauchte sie Unterlagen, mit denen sie
das Gremium von sich überzeugen konnte. Nun saß Wika vor dem Computer und tippte mit Sarahs Hilfe, was das Englische betraf,
Wanjas Lebensgeschichte ein. Sie beschrieb die Einrichtungen, in denen er bislang gewesen war, und schilderte, inwiefern ihn
das dortige Leben in seiner Entwicklung gebremst hatte. Obwohl er flüssig sprechen konnte, sei er in den Kindertrakt einer
Irrenanstalt für Erwachsene überwiesen worden. Bis zu seiner Rückkehr in das Babyhaus habe er sich auf den Stand eines Zweijährigen
zurückentwickelt. Sollte er nicht adoptiert werden, würde ihn das gleiche Schicksal in einer ähnlichen Anstalt ereilen.
»Wanja ist ein ganz außergewöhnliches Kind«, schloss Wika ihren Bericht. »Er ist warmherzig und besitzt ein feines Gespür
für Menschen. Erst in einer Familie wird er seine Fähigkeit, Liebe zu erwidern und zu geben, leben können.«
Sarah hatte eine Idee. Sie kramte die Faxe hervor, die ihr Tom und Roz aus Florida geschickt hatten und in denen sie von Andrejs
Fortschritten berichteten, die er seit seiner Adoption gemacht hatte.
»Lass uns die dazulegen – die Geschichte von Wanjas bestem Freund, dem Jungen, dem er das Sprechen beigebracht |196| hat.« Tom und Roz schrieben, dass Andrej allein in den ersten fünf Monaten zehn Zentimeter gewachsen sei. Sein Englisch verbessere
sich stetig. In der kurzen Zeit habe er sämtliche Entwicklungsstufen vom Eineinhalbjährigen zum Sechseinhalbjährigen genommen,
und nun lerne er gerade laufen. Wenn Andrej von seiner Zeit im Babyhaus spreche, sage er: »Essen, schlafen, essen, schlafen,
das war alles, was ich den ganzen Tag gemacht habe.« Doch es gab auch Beunruhigendes zu berichten. Nachdem Tom und Roz den
Jungen zu sich geholt hatten, entdeckten sie, dass sein Gesäß mit Einstichstellen übersät war. Sie kamen zu dem Schluss, dass
er regelmäßig Beruhigungsmittel erhalten haben musste, damit er den Großteil des Tages ruhiggestellt war.
Laut Andrejs russischer Krankenakte litt er an Rachitis, und es lag eine Fehlstellung der Hüften vor, doch beiden Diagnosen
wollten sich die Spezialisten in Amerika nicht anschließen. Was die infantile Zerebralparese betraf, diagnostizierte der Neurologe
lediglich eine leichte Form, die Andrej nicht daran hindern würde, laufen zu lernen.
»Lies mal, was hier über seine Gehbehinderung steht«, sagte Sarah und deutete auf das Fax. »Genau, wie wir es immer vermutet
haben. Sie sagen, sein Zustand ist das Ergebnis von Vernachlässigung und Verwahrlosung. Es wäre ein Leichtes gewesen, sein
Defizit in jungen Jahren zu korrigieren.«
Sarah redete sich in Rage. »Es ist geradezu kriminell, was in diesen Babyhäusern vor sich geht. Sie erhalten Frühgeburten
und machen sie zu Krüppeln.«
Wika fand, dass Sarah zu hart mit dem Babyhaus 10 ins Gericht ging. »Adela und ihre Leute sind nicht herzlos, Sarah. Sie sind
einfach überarbeitet. Sie kommen ja kaum mit dem Saubermachen und Füttern nach. Sich jedem Kind einzeln zu widmen, bleibt
da einfach keine Zeit.«
»Siebzig Personen arbeiten im Babyhaus 10, bei gerade einmal zweiundsechzig Kindern. Was machen die alle? Und überhaupt hätten
sie viel weniger Arbeit, wenn sie den Kindern beibringen würden, selbständiger zu werden – sich selbst anzuziehen |197| und aufs Töpfchen zu gehen, zum Beispiel. Schau dir Wanja an, er ist absolut dazu in der Lage, auf die Toilette zu gehen und
sich anzuziehen, aber niemand lässt ihn. Und was ist mit diesen ganzen so genannten Spezialisten? Die sitzen den lieben langen
Tag in ihren Büros herum, trinken Tee und füllen Formulare aus. Warum kümmern sie sich nicht darum, dass die Kinder ihre
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