Wolkengaenger
Beine
benutzen? Es gibt einen Raum mit Sprossenwänden und physiotherapeutischen Geräten, der nie benutzt wird.«
»Bei der schlechten Bezahlung …«, begann Wika.
»Damit hat es aber gar nichts zu tun. Ich habe nämlich erfahren, dass das Personal desto mehr Vergünstigungen erhält, je behinderter
die Kinder sind – mehr Urlaubstage zum Beispiel. Es gibt überhaupt keinen Anreiz, mit den Kindern zu arbeiten.«
Wika versuchte, Sarahs Aufmerksamkeit auf ihre eigentliche Arbeit zurückzulenken. »Was wir brauchen, sind unabhängige medizinische
Gutachten über Wanja.«
»Wie wäre es damit?«, fragte Sarah und reichte Wika einen mit Maschine geschriebenen Brief von einem Kinderpsychologen aus
St. Petersburg, der im Anna Freud Centre in London gearbeitet hatte. Dort hieß es: »Nur in einer familiären Umgebung, in der
er Liebe, Zuwendung und Stimulation erfährt, wird es Wanja gelingen, seine Fähigkeiten erfolgreich auszubilden. Innerhalb
des Babyhauses wird das nicht möglich sein.«
Sie steckten den Brief zu den anderen Unterlagen in einen großen, an Linda adressierten Umschlag. Darunter war auch das Video,
das Sergej, der Konzertpianist, heimlich in Filimonki gedreht hatte, als Beweis für die entsetzlichen Zustände in den Anstalten.
Auch Wanja war kurz darauf zu sehen.
»Damit sollte die Sache geregelt sein«, sagte Sarah, während sie auf den Kurier warteten, der den Umschlag abholen sollte.
Sie hatten gute Arbeit geleistet, doch es lauerte bereits die nächste Gefahr: Die Kommission konnte nun jeden Tag im |198| Babyhaus 10 eintreffen. Und wenn Wanja erst einmal von ihr begutachtet worden war, war er praktisch schon unterwegs in die
nächste Anstalt. Adela wäre zu schwach, um das zu verhindern. An diesem Abend betete Wika für ein Wunder.
Die Wahrheit über die Geschehnisse jenes Tages, an dem die Kommission das Babyhaus aufsuchte, kamen erst mehr als zehn Jahre
später und nach monatelangem, sorgfältigem Sammeln von Beweismitteln ans Licht.
Während Sarah und Wika Material zusammensuchten, das sie Linda zur Vorlage bei dem britischen Adoptionsgremium schicken konnten,
stand Adela an ihrem Schreibtisch und ordnete Krankenakten. Es waren exakt zehn Stück, und sie beinhalteten die Krankengeschichte
jener Kinder, die am darauffolgenden Tag der Kommission vorgeführt werden sollten. Die Akte von Wanja Pastuchow war außergewöhnlich
dick – schließlich war er älter als die anderen –, und einige Blätter waren ausgerissen. Ihr Blick fiel auf einen Brief vom
Krankenhaus Nr. 58. Es war ein Erinnerungsschreiben, dass Wanja am 23. Dezember zu seiner dritten Behandlung im Krankenhaus
erwartet wurde. Adela stockte der Atem, als sie erkannte, dass das der morgige Tag war – der Tag, an dem die Kommission kommen
sollte. Dieses Zusammentreffen versetzte sie in helle Aufregung. Sie setzte sich und dachte nach. Sollte sie ihn der Kommission
vorführen und im Anschluss direkt ins Krankenhaus schicken? Aus Gründen, mit denen sie sich nicht auseinandersetzen wollte,
passten diese beiden Dinge nicht zusammen. Sie stellte sich vor, wie sie ihn der Kommission präsentierte, sah bereits den
Brief auf ihrem Schreibtisch liegen, in dem stand, in welche Anstalt er überführt werden sollte; und sie stellte sich vor,
wie sie sich in dem Bewusstsein von ihm verabschiedete, ihn an einen Ort des Leids zu schicken.
Dann sah sie ein anderes Bild vor sich: Wanja im Krankenhaus, wo ihn die Ärzte lobten, er laufen lernte und einer Zukunft
entgegensah. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Zu |199| ihrer eigenen Beruhigung sagte sie sich, dass ihr die Kommission nichts würde anhaben können, wenn sie Wanja nicht im Babyhaus
anträfe, da sie vollkommen aufrichtig von seinem Krankenhausaufenthalt berichten könnte. Jetzt kam es nur noch darauf an,
Wanja fortzubringen, bevor die Kommission eintraf. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und rief den ständig unzuverlässigen
Fahrer an, der die Transporte für das Babyhaus übernahm, um ihm zu sagen, dass er am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit zu
erscheinen habe.
Am nächsten Morgen herrschte reger Verkehr in Moskau. Von Woche zu Woche spitzte sich die Situation auf den Straßen mehr zu,
da immer mehr Wagen zugelassen wurden. Die Mitglieder der Kommission des Psychiatrischen Krankenhauses Nr. 6 waren auf dem
Weg zu ihrem jährlichen Termin im Babyhaus 10. Sie waren spät dran und dementsprechend schlecht gelaunt. Als
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