Wolkengaenger
sie zwischen
zwei Baustellen in die Gasse zum Babyhaus einbogen, kam ihnen ein alter grauer Wolga entgegen.
Da das Tor zum Babyhaus geschlossen war, konnte der Wolga nicht zurücksetzen. Fluchend legte der Fahrer der Kommission den
Rückwärtsgang ein und manövrierte das Auto zurück auf die verstopfte Hauptstraße, um den anderen Wagen vorbeizulassen.
Was die Kommission nicht wusste: In dem Wolga befand sich ein kleiner Junge, der auf ihrer Liste zur Begutachtung stand. Er
entkam ihrer Prüfung in letzter Minute. Wika hatte für ein Wunder gebetet, und ihre Gebete waren erhört worden.
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|200| 17.
DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK
Januar bis Mai 1998
Das Adoptionsgremium tagte am 9. Januar, doch eine Woche später hatte Sarah noch immer nichts von Linda gehört. Entsprechend
aufgeregt rannte sie jedes Mal zum Telefon, wenn es klingelte. Als sie eines Abends wieder einmal nervös den Hörer abnahm,
hörte sie am anderen Ende nur ein unverständliches Schluchzen.
»Linda, sind Sie es? Was ist denn los?«
»Ja. Ich bin’s.« Linda brach erneut in Tränen aus. Sie musste schlechte Nachrichten haben. Es dauerte eine Weile, bis sie
in der Lage war, weiterzusprechen.
»Das Gremium hat zugestimmt. Ich wurde angenommen.«
»Das ist ja großartig! Wirklich glücklich klingen Sie allerdings nicht.«
»Ich bin so erleichtert, ich kann gar nicht mehr aufhören, zu weinen. Ich weiß, ich sollte mich anders verhalten.«
Linda erzählte Sarah, dass sie die frohe Botschaft gerade mit ihrer Tochter bei einem Gläschen Sherry feiere, obwohl es noch
nicht einmal sechs Uhr sei. Wanja würde sich noch ein paar Monate gedulden müssen, sagte sie, aber er sei nun definitiv auf
dem Weg nach England.
»Ich kann es gar nicht abwarten, den anderen davon zu erzählen. Wika wird außer sich sein vor Freude. Sie hat für Sie gebetet.«
Die nächste Stunde verbrachte Sarah am Telefon und überbrachte allen die gute Nachricht. Wika sagte, dass sie Wanja am nächsten
Tag im Krankenhaus Nr. 58 besuchen würde, und die beiden Frauen einigten sich darauf, ihm vorerst noch |201| nichts von seiner zukünftigen Mutter zu erzählen; das Adoptionsverfahren sollte erst abgeschlossen sein.
Einzig Grigori, der Anwalt, brach nicht in Jubel aus, als er die Neuigkeiten hörte. Er klang niedergeschlagen und reagierte
sarkastisch. »Wie schön – ich gehe gerade durch die Hölle. Diese Biester sind hinter mir her. Die wollen mich fertigmachen.«
Sarah hatte keine Ahnung, wovon er sprach, doch sie begriff, dass dies eine Angelegenheit war, die man besser nicht am Telefon
erörterte, und versprach, am nächsten Tag bei ihm vorbeizuschauen. »Zugegeben, ich wusste nicht gerade viel über die einzelnen
Instanzen im russischen Adoptionssystem«, gesteht Sarah. »Die Funktionen all der verschiedenen Ministerien, Ämter, Datenbanken
und Gerichte, mit denen Grigori zu tun hatte, waren mir vollkommen unbekannt. Und jetzt klang es, als sei er in Schwierigkeiten.
Ich tat, was jedes Mädchen in dieser Situation tun würde, und bat Alan, mich zu Grigori zu begleiten, um mit ihm zu reden.
Wir machten Grigori in einem Ministeriumsgebäude ausfindig, das noch aus der Zeit Stalins stammte. Grigori stand noch ganz
am Anfang seiner Karriere und saß daher, bis er Fuß gefasst hatte und sich ein eigenes Büro leisten konnte, im Vorzimmer irgendeines
hohen Funktionärs. Entsetzt mussten wir feststellen, dass von dem selbstbewussten jungen Anwalt, den wir kannten, nicht mehr
viel übrig war. Er war unrasiert, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und seine Kleidung sah aus, als hätte er darin geschlafen.«
Grigori gab ihnen wortlos zu verstehen, dass sie vor dem Schreibtisch Platz nehmen sollten.
»Also, was ist los?«, fragte Alan.
Grigori hielt ihm eine Zeitung hin.
»Die wollen mich vernichten und verbreiten Geschichten über mich in der Presse.«
»Wer sind ›die‹?«
»Diese Frauen – diese Hexen vom Ministerium, die sich von den Adoptionsagenturen fürstlich bezahlen lassen. Sie wehren |202| sich gegen meine Versuche, dort so aufzuräumen, wie es nötig wäre.«
Ungläubig lasen Sarah und Alan den Artikel. Es war ein Großangriff auf Grigori, in dem er völlig zu Unrecht der Geschäftemacherei
mit Adoptionen beschuldigt wurde. Statt kinderlosen Paaren wohltätige Dienste zu erweisen, nutze er die Verzweiflung der Ausländer
aus und kassiere Zehntausende Dollar. Auch Wanja wurde in dem Artikel erwähnt – der
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