Wolkengaenger
ihr eine Liste.
Als Erstes forderten sie eine Bestätigung, dass die Agentur, die die Tauglichkeitsprüfung durchgeführt hatte, überhaupt dazu
befugt war. »Natürlich ist sie befugt. Sie wurde von den örtlichen Behörden beauftragt. Damit ist sie per definitionem befugt.«
Sarah sah Grigori an. »Sind Sie sicher, dass dies nicht allesamt Versuche sind, die Angelegenheit zu verzögern?« Er gab keine
Antwort.
Nachdem Grigori gegangen war, rief Sarah Linda an und überbrachte ihr die Hiobsbotschaft. Bei ihrem letzten Telefonat hatte
Linda so erleichtert geklungen, und nun musste Sarah ihr mitteilen, dass das russische Ministerium die Annahme |207| des Dossiers, das sie so gewissenhaft zusammengetragen hatte, verweigert hatte. Nachdem Sarah aufgelegt hatte, machte sich
eine schreckliche Erkenntnis in ihr breit. Es gab nur zwei Möglichkeiten, weshalb sich die Frauen im Ministerium derart sperrten:
Entweder erwarteten sie Bestechungsgelder oder – und das war der weitaus scheußlichere Gedanke – sie waren so hartherzig,
dass ihnen Wanjas Fall im Kampf gegen Grigori gerade recht kam.
Am nächsten Morgen wachte Sarah mit dem Gefühl auf, etwas Dringendes erledigen zu müssen. Durch die Zurückweisung des Dossiers
würde sich das gesamte Adoptionsverfahren verzögern, es war daher wichtig, sich mit dem Personal des Babyhauses gutzustellen.
Glücklicherweise hatte sie gerade ein paar Bilder von Andrej aus Florida erhalten. Auf einem war er glückselig lächelnd im
Streichelzoo zu sehen. Sarah schnappte sich einen goldenen Bilderrahmen mit einem Familienfoto und ersetzte es durch Andrejs
Bild. Sie war gerade dabei, Kleiderspenden von ihrer Nachbarin ins Auto zu laden, als ihre neue Freundin Rachel, eine Firmenanwältin,
auftauchte. Wie Sarah hatte auch sie ihren Mann nach Moskau begleitet. Nun brannte sie darauf, ein Babyhaus von innen zu sehen.
Obwohl es bereits Anfang April war, war es plötzlich wieder kälter geworden, und es hatte noch einmal geschneit. Als Sarah
und Rachel am Babyhaus ankamen, trafen sie die Kinder aus Wanjas Gruppe draußen beim Spielen an.
»Ich sage spielen, dabei wussten sie gar nicht, wie das geht«, erinnert sich Sarah. »Sie irrten einfach nur umher, beaufsichtigt
von Dusja, einer alten Betreuerin, die ständig Zigaretten bei den neuen Wachmännern schnorrte. Wanja gab eine traurige Figur
ab, wie er abgestellt in einem Buggy saß. Wie immer sagte er das Wichtigste zuerst. ›Mir ist kalt.‹ Ich half ihm aus dem Wagen
und begann, mit ihm auf- und abzulaufen, um ihn aufzuwärmen. Als Rachel sich den Kindern näherte, scheuchte Dusja sie davon,
als leide sie an einer ansteckenden Krankheit. Wanja fragte, ob er sich ins Auto setzen dürfe, und |208| als ich ihn kurze Zeit später dort wieder abholen wollte, war er bereits dabei, Rachel Russisch beizubringen.«
Da es so aussah, als würde in den kommenden Monaten Dusja für Wanja verantwortlich sein, entschied Sarah, es auf einen Versuch
ankommen zu lassen und sich bei ihr einzuschmeicheln. »Er hat gerade seine Tests hinter sich gebracht«, begann Dusja völlig
unvermittelt. »Er wird gehen.«
»Das dauert womöglich noch eine Weile«, sagte Sarah.
»Oh, nein. Schon ganz bald. Er und die anderen haben bereits ihre Papiere für das Internat 30 erhalten.«
Sarah starrte sie vollkommen entsetzt an. »Aber er wird doch adoptiert! Er geht nach England!«
»Davon weiß ich nichts. Mir wurde gesagt, dass er zusammen mit den anderen ins Internat 30 kommt.«
Sarah lief los, um Adela zu suchen. Sie war gerade dabei, ihre Stiefel am Eingang auszuziehen, als ein übereifriger Wachmann
begann, das Personal anzuschreien, weil es Fremden den Zutritt erlaubte. »Mir war klar, dass er mich damit meinte, obwohl
er mich schon mehrfach zuvor gesehen hatte. Er verlangte, dass ich mich anmeldete.«
Adelas Stellvertreterin erschien und teilte Sarah mit, dass Adela vier Wochen Urlaub genommen habe. Sie hatte keinerlei Anweisungen
hinterlassen, dass Wanja nicht zusammen mit den andern ins Internat geschickt werden sollte.
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass das Adoptionsverfahren noch läuft?«, fragte die Stellvertreterin vorwurfsvoll.
Wie es schien, gab man wieder einmal Sarah die Schuld an allem. Sie hatte angenommen, dass der Anwalt das Babyhaus über den
Abschluss von Lindas Eignungstests informiert hatte. Doch davon wusste hier niemand etwas. Sarah erklärte ihnen, dass das
Dossier bis auf
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