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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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und herumzutragen. Dort saß er dann mit einem rundum zufriedenen Gesichtsausdruck, genoss die Aussicht und sang leise vor
     sich.
    |220| Als sie feststellten, dass es bereits fünf Uhr war, gerieten alle in Panik, da Wanja spätestens um sechs im Babyhaus zurückerwartet
     wurde. Die Atmosphäre im Auto war angespannt, und alle verstummten, als sie drohten, im dichten Verkehr steckenzubleiben.
     Einzig Wanja meldete sich in regelmäßigen Abständen zu Wort: »Es ist noch weit, stimmt’s? Noch ganz weit?« Er wollte nicht
     zurück in seine stille Welt. Was für ein Unterschied zu anderen Kindern, die in solchen Momenten ständig fragten: Sind wir
     schon da? Sind wir schon da?
    Allen war klar, dass Wanjas Verspätung für das Babyhaus keine Lappalie sein würde, doch keiner rechnete damit, dass damit
     eine handfeste Krise ausgelöst werden würde. Die stellvertretende Leiterin war extra länger geblieben, da sie, wie sie betonte,
     einen Fall von Kindesentführung vermuten musste. Sarah entschuldigte sich tausendfach, doch im Inneren ärgerte es sie, dass
     die gleichen Menschen, die Wanja in eine Irrenanstalt und damit beinahe in den Tod geschickt hatten, nun Angst hatten, weil
     sie ihn ein Picknick hatten machen lassen.
    Am nächsten Tag trafen sich Linda und George mit Grigori, dem Anwalt, und Nellie, der Dolmetscherin des
Telegraph
, um herauszufinden, warum es mit der Adoption nicht voranging. Ihr Termin bei Frau Morozowa, der zuständigen Mitarbeiterin
     für Adoptionen, war für 14 Uhr ausgemacht. Alle waren sich sicher, dass die Sabotageakte der russischen Behörden der Vergangenheit
     angehören würden, wenn sie erst einmal dieses herzensgute englische Pärchen aus bescheidenen Verhältnissen kennengelernt hatten,
     dem so viel daran lag, einem behinderten Kind ein Zuhause zu geben. Außerdem hatte Linda die neuen Dokumente dabei, jedes
     einzeln beglaubigt und mit einer Apostille versehen – genau wie angeordnet.
    Wanja blieb währenddessen bei Sarah und Alan und erlebte einen der aufregendsten Nachmittage seines Lebens. Alan bat ihn,
     ihm bei der Anbringung einer neuen Klinke an der Tür zur Vorratskammer zu helfen. Zunächst durfte Wanja eine Türklinke auswählen,
     dann die passenden Schrauben heraussuchen. |221| Staunend erkundete er das Schränkchen, in dessen Schubladen sich Schrauben und Nägel in allen nur erdenklichen Größen fanden;
     begeistert erklomm er mit Alans Hilfe die Stufen der Stehleiter, um an das Türschloss zu kommen; glücklich hantierte er mit
     dem Schraubenzieher. Als sie fertig waren, rief er Sarah und verkündete: »Schau mal, was wir für dich gemacht haben. Jetzt
     kannst du die Tür aufmachen.« Es war ein perfekter Nachmittag.
    Als Linda zurückkam, kochte sie vor Wut. Sie schaffte es nicht einmal, Wanja zu begrüßen und sich sein Abenteuer mit dem Schraubenzieher
     anzuhören, sondern platzte gleich damit heraus, dass sie Unfassbares bei dieser Frau erlebt habe. »Und Sie, Sarah, haben mit
     Ihrem Anruf alles noch schlimmer gemacht«, feuerte sie Sarah entgegen, bevor sie sich zurückzog, um sich auszuruhen.
    Linda, George, Grigori und Nellie waren pünktlich vor Frau Morozowas Büro eingetroffen, wo ihnen eine Sekretärin zu verstehen
     gegeben hatte, sie sollten im Flur Platz nehmen und warten. Während sie dort saßen, berichtete Linda Nellie von den Strapazen,
     die sie bislang hatten auf sich nehmen müssen. Seit zwei Jahren sparten und knauserten sie an allen Ecken und Enden; sie hatten
     die demütigenden Prüfungen der englischen Behörden über sich ergehen lassen und selbst die zudringlichsten Fragen über ihr
     Privatleben beantwortet; sie hatten sich von einigen ihrer liebsten Stücke getrennt – einschließlich Georges Rugbyvideo-Sammlung
     –, um Platz für Wanja zu schaffen; sie hatte die kostbaren Urlaubstage ihres Mannes dazu verbraucht, um mit ihrer Familie
     nach Moskau zu reisen, und ihren Sohn gezwungen, zwei Wochen in einer Stadt zu verbringen, in der es rein gar nichts für ihn
     zu tun gab. Und währenddessen saßen zu Hause in England ihre Patientinnen und wechselten womöglich zu einer anderen Physiotherapeutin,
     weil sie Linda für unzuverlässig hielten. Und dann das:
    Nach einer halben Stunde tauchte Frau Morozowa leibhaftig auf. Sie trug ein marineblaues Kostüm, eine gestärkte weiße Bluse
     und ein Tüchlein von Hermès um den Hals. Ihre Finger |222| waren mit unzähligen Goldringen bestückt, und ihr glattes schwarzes Haar

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