Wolkengaenger
akkurat frisiert.
Sie blickte auf die Bittsteller herab, und ein angewiderter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie Grigori erkannte, der
mit ungewaschenen Haaren und ungesunder Gesichtsfarbe vollkommen erschöpft aussah. Die Morozowa bellte ihm etwas zu, dann
machte sie kehrt, lief den Flur hinunter und war verschwunden. Nellie wagte kaum, zu dolmetschen, was sie gesagt hatte: Sie
würde nun mittagessen gehen, und die Besucher hätten zu warten.
Entrüstet fragte Linda Nellie, was sich diese Frau erlaube, sie derartig zu behandeln. War ihr denn nicht bewusst, dass sie
den ganzen weiten Weg von England hierher gekommen waren, um ein Kind zu adoptieren, das andernfalls in eine Irrenanstalt
gesperrt würde? Was für eine grausame und herzlose Kreatur war diese Frau?
Sie hatten mehr als genug Zeit, um dieser Frage nachzugehen. Frau Morozowa kehrte erst nach über einer Stunde wieder zurück
und dachte gar nicht daran, sich für die lange Wartezeit zu entschuldigen. Nellie war von der teuren Einrichtung ihres Büros
tief beeindruckt: der auf Hochglanz polierte Schreibtisch aus dunklem Holz und der dazu passende Schrank mit den Glastüren,
der riesige Fernseher in der Ecke und die mit Schokolade gefüllte Glasschale auf dem Spitzendeckchen. Der Unterschied zu ihrem
eigenen schäbigen Arbeitsplatz im Büro des
Telegraph
hätte nicht größer sein können.
Grigori erkundigte sich, ob sie das Bestätigungsschreiben erhalten habe, um das Sarah sie vor über einem Monat gebeten hatte.
Arglist blitzte in ihren Augen auf, als Frau Morozowa Grigori darüber informierte, dass sie die Einmischung von Fremden nicht
dulde und ihm und seinen Klienten daher eine Lehre erteilen müsse: Sie habe die Bearbeitung seiner Anfrage zurückgestellt.
Darüber hinaus sei auch das neu angefertigte Dossier nach wie vor vollkommen inakzeptabel. Die britischen Behörden verstünden
es nicht, ein Dossier den russischen |223| Anforderungen entsprechend zusammenzustellen. Zu gegebener Zeit würde sie sie darüber informieren, welche Dokumente wieder
hinzugefügt werden müssten. Mit einem Wink ihrer goldfunkelnden Hand gab sie den Besuchern zu verstehen, dass das Gespräch
damit beendet sei. Rückblickend besteht für Grigori kein Zweifel daran, was diese Morozowa an jenem Nachmittag beabsichtigte:
»Sie wollte Linda mürbe machen und ihr den Wunsch, ein russisches Kind zu adoptieren, ein für alle Mal austreiben.«
Ernüchtert verließen die vier das Büro. Linda war wütend auf Grigori. Warum hatte er diesem tyrannischen Weib nichts entgegengehalten?
Wie war es möglich, dass ihre mühsam zusammengetragenen und teuren Dokumente nicht gut genug waren? Der Umstand, dass sie
gezwungen war, über einen Dolmetscher mit ihm zu sprechen, machte sie nur noch wütender. Vor dem Bürogebäude angekommen, gingen
sie wortlos auseinander – Grigori in die eine Richtung zur Metro, die Fletchers und Nellie zu ihrem Wagen.
Von nun ging es stetig bergab. Tags darauf klagte Linda, dass Wanja aggressiv geworden sei und ihren Sohn Philip geschlagen
habe, woraufhin Sarah ihre Freundin Ann bat, vorbeizukommen. Ann hatte selbst ein Adoptivkind, war vor kurzem nach Moskau
gezogen und hatte in Großbritannien eine Selbsthilfegruppe für Adoptiveltern geleitet. Ihr schüttete Linda ihr Herz aus. Wanja
verhielte sich in ihrer Anwesenheit unkontrollierbar, sie käme mit seinen Trotzanfällen nicht zurecht und mache sich Sorgen
über die Auswirkungen seines Verhalten auf ihre Enkel. Dies war das erste Mal, dass sich jemand über Wanja beklagte. Im Sturm
hatte Wanja Nellies Herz erobert. Stundenlang durfte er auf ihrem Schoß sitzen, während sie ihm liebevoll beibrachte, eine
Computermaus zu bedienen. Bis heute erzählt Sarahs Mutter die Geschichte, wie sie Wanja beibrachte, mit einem Staubsauger
umzugehen, und wie schnell er sich den Markennamen Hoover hatte merken können. In diesen zwei Wochen lernte Wanja siebenundzwanzig
englische Wörter und Ausdrücke.
|224| Eines Morgens, Fahrer und Wagen des
Daily Telegraph
standen wie jeden Morgen bereit, um Linda ins Babyhaus zu bringen und Wanja abzuholen, ließ Linda alle auf sich warten. Es
war bereits nach neun, und noch immer war keine Spur von ihr zu sehen. Um zehn sah es nicht anders aus. Die Vorstellung, wie
Wanja abmarschbereit auf seinem kleinen Stuhl am Eingang des Babyhauses saß und auf Linda und George wartete, die ihn ermuntert
hatten, sie Mummy
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