Wolkengaenger
worden, doch im Unterschied zu den anderen Kindern, die
im Anschluss einen einzelnen Bonbon geschenkt bekamen, hatte Wanja beide Hände voller Süßigkeiten.
Draußen fragte Sarah den übereifrigen ranghöchsten Wachmann, ob sie Wanja mit zum Auto nehmen dürfe. Er antwortete ihr laut,
damit auch jeder hören konnte, wie gewissenhaft er seine Arbeit erledigte, und in perfektem Behördenduktus: »Die Entfernung
der Kinder vom Territorium des Babyhauses ist strengstens untersagt.« Dann raunte er ihr in verschwörerischem Ton zu: »Sie
überprüfen uns. Es gibt einen Inspektor. Er inspiziert sogar unsere Uniformen.« Nun, dachte Sarah, selbst wenn die Kinder
vernachlässigt wurden, schenkte man offenbar wenigstens den Uniformen der Wachmänner die nötige Aufmerksamkeit.
Gegen Ende ihres Besuches – Sarah war gerade dabei, Wanja heimlich mit Äpfeln zu füttern, da Linda sie gebeten hatte, ihm
so viele Vitamine wie möglich zukommen zu lassen – beobachtete sie, wie sich die freiwilligen Helferinnen aus der Gemeinde
vor dem Haus versammelten und hinter einem hübschen jungen Priester aufstellten, der aussah wie eine bärtige |214| Version von Leonardo DiCaprio. Mit einem Stab in der Hand, an dessen oberen Ende ein Jesusbild befestigt war, begann er eine
Prozession um das Waisenhaus, in die sich auch bald die religiösen Mitarbeiterinnen des Babyhauses einreihten. Ostern stand
vor der Tür, und sie hielten die traditionelle Ostersonntag-Kreuzprozession ab. Die Kinder allerdings wurden in dieses Ritual
nicht einbezogen.
Anfang Mai rief eine besorgte Linda bei Sarah an. Sie hatte mit einem britischen Spezialisten gesprochen, der befürchtete,
dass sich Wanjas körperliche Verfassung im Moment rapide verschlechtere, da er seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus
keinerlei physiotherapeutische Behandlung erhalten habe. Linda kündigte an, Mitte Mai nach Moskau zu kommen. Dies war der
einzige Zeitpunkt, zu dem ihr Mann George freibekam. Sie würden aus der Reise ihren Jahresurlaub machen und ihren fünfzehnjährigen
Sohn, Philip, mitbringen. Insgesamt wollten sie zweieinhalb Wochen bleiben, um Verschiedenes zu klären.
Für Sarah war dieser Zeitpunkt eher ungünstig. Ihr Sohn William hatte Ferien, und sie erwartete außerdem den Besuch ihrer
Eltern. Dennoch willigte sie ein und versprach, sich um die nötigen Visa und eine Unterkunft zu kümmern, ein Reisebüro zu
suchen und ihnen jederzeit als Dolmetscher und Fahrer zur Verfügung zu stehen. Doch wirklich wohl war Sarah bei dem Gedanken
nicht, dass die Fletchers so lange in dieser ihnen vollkommen fremden Stadt bleiben wollten. War Moskau das geeignete Ziel
für einen Familienurlaub? Selbst die Einheimischen flohen während der Sommermonate aufs Land oder ans Schwarze Meer. Musste
diese Kombination von Adoptionsgeschäft und Urlaub nicht zwangsläufig zu Spannungen und Enttäuschungen führen? Doch Sarah
behielt ihre Bedenken für sich. »Ich hätte alles dafür getan, dass Wanja endlich adoptiert wird. Außerdem wurde die Zeit langsam
knapp«, erinnert sie sich. »Im Babyhaus suchten sie ja geradezu nach einer Gelegenheit, um ihn loszuwerden. Und da war noch
etwas: Alan sollte im Sommer versetzt werden – in |215| drei Monaten würden wir weg sein. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Wanjas Schicksal noch immer offen sein würde,
wenn wir uns bereits auf unsere Abreise vorbereiteten.«
An dem Tag, als die Fletchers in Moskau eintrafen, herrschte scheußliches Schmuddelwetter. Am Vortag war Sarah noch einmal
ins Babyhaus gefahren, um sicherzustellen, dass die übereifrigen Wachmänner Linda und George auch hereinlassen und ihnen erlauben
würden, Wanja vom »Territorium des Babyhauses zu entfernen« – wie sie es so schön nannten.
Sarah erinnert sich, dass sie Adela zusammen mit einer ihrer Stellvertreterinnen in ihrem Büro antraf. Die Frau hatte frisch
gefärbte Haare und trug einen Rock mit aufreizendem Schlitz unter ihrem Kittel. »Sie musterte mich von oben bis unten, fragte
mich süffisant, ob ich zugenommen hätte, und sagte mir, dass ich mich entspannen solle.
Ich erklärte den beiden, dass ich angespannt sei, weil Wanjas Adoption über die Bühne gebracht werden musste, solange sich
Linda in Moskau aufhielt, sich die Frauen im Ministerium jedoch unendlich viel Zeit ließen. Naiv sagte Adela: ›Erklären Sie
ihnen das einfach, und dann machen sie schneller.‹
Mir fiel auf,
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