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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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worden, doch im Unterschied zu den anderen Kindern, die
     im Anschluss einen einzelnen Bonbon geschenkt bekamen, hatte Wanja beide Hände voller Süßigkeiten.
    Draußen fragte Sarah den übereifrigen ranghöchsten Wachmann, ob sie Wanja mit zum Auto nehmen dürfe. Er antwortete ihr laut,
     damit auch jeder hören konnte, wie gewissenhaft er seine Arbeit erledigte, und in perfektem Behördenduktus: »Die Entfernung
     der Kinder vom Territorium des Babyhauses ist strengstens untersagt.« Dann raunte er ihr in verschwörerischem Ton zu: »Sie
     überprüfen uns. Es gibt einen Inspektor. Er inspiziert sogar unsere Uniformen.« Nun, dachte Sarah, selbst wenn die Kinder
     vernachlässigt wurden, schenkte man offenbar wenigstens den Uniformen der Wachmänner die nötige Aufmerksamkeit.
    Gegen Ende ihres Besuches – Sarah war gerade dabei, Wanja heimlich mit Äpfeln zu füttern, da Linda sie gebeten hatte, ihm
     so viele Vitamine wie möglich zukommen zu lassen – beobachtete sie, wie sich die freiwilligen Helferinnen aus der Gemeinde
     vor dem Haus versammelten und hinter einem hübschen jungen Priester aufstellten, der aussah wie eine bärtige |214| Version von Leonardo DiCaprio. Mit einem Stab in der Hand, an dessen oberen Ende ein Jesusbild befestigt war, begann er eine
     Prozession um das Waisenhaus, in die sich auch bald die religiösen Mitarbeiterinnen des Babyhauses einreihten. Ostern stand
     vor der Tür, und sie hielten die traditionelle Ostersonntag-Kreuzprozession ab. Die Kinder allerdings wurden in dieses Ritual
     nicht einbezogen.
     
    Anfang Mai rief eine besorgte Linda bei Sarah an. Sie hatte mit einem britischen Spezialisten gesprochen, der befürchtete,
     dass sich Wanjas körperliche Verfassung im Moment rapide verschlechtere, da er seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus
     keinerlei physiotherapeutische Behandlung erhalten habe. Linda kündigte an, Mitte Mai nach Moskau zu kommen. Dies war der
     einzige Zeitpunkt, zu dem ihr Mann George freibekam. Sie würden aus der Reise ihren Jahresurlaub machen und ihren fünfzehnjährigen
     Sohn, Philip, mitbringen. Insgesamt wollten sie zweieinhalb Wochen bleiben, um Verschiedenes zu klären.
    Für Sarah war dieser Zeitpunkt eher ungünstig. Ihr Sohn William hatte Ferien, und sie erwartete außerdem den Besuch ihrer
     Eltern. Dennoch willigte sie ein und versprach, sich um die nötigen Visa und eine Unterkunft zu kümmern, ein Reisebüro zu
     suchen und ihnen jederzeit als Dolmetscher und Fahrer zur Verfügung zu stehen. Doch wirklich wohl war Sarah bei dem Gedanken
     nicht, dass die Fletchers so lange in dieser ihnen vollkommen fremden Stadt bleiben wollten. War Moskau das geeignete Ziel
     für einen Familienurlaub? Selbst die Einheimischen flohen während der Sommermonate aufs Land oder ans Schwarze Meer. Musste
     diese Kombination von Adoptionsgeschäft und Urlaub nicht zwangsläufig zu Spannungen und Enttäuschungen führen? Doch Sarah
     behielt ihre Bedenken für sich. »Ich hätte alles dafür getan, dass Wanja endlich adoptiert wird. Außerdem wurde die Zeit langsam
     knapp«, erinnert sie sich. »Im Babyhaus suchten sie ja geradezu nach einer Gelegenheit, um ihn loszuwerden. Und da war noch
     etwas: Alan sollte im Sommer versetzt werden – in |215| drei Monaten würden wir weg sein. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Wanjas Schicksal noch immer offen sein würde,
     wenn wir uns bereits auf unsere Abreise vorbereiteten.«
     
    An dem Tag, als die Fletchers in Moskau eintrafen, herrschte scheußliches Schmuddelwetter. Am Vortag war Sarah noch einmal
     ins Babyhaus gefahren, um sicherzustellen, dass die übereifrigen Wachmänner Linda und George auch hereinlassen und ihnen erlauben
     würden, Wanja vom »Territorium des Babyhauses zu entfernen« – wie sie es so schön nannten.
    Sarah erinnert sich, dass sie Adela zusammen mit einer ihrer Stellvertreterinnen in ihrem Büro antraf. Die Frau hatte frisch
     gefärbte Haare und trug einen Rock mit aufreizendem Schlitz unter ihrem Kittel. »Sie musterte mich von oben bis unten, fragte
     mich süffisant, ob ich zugenommen hätte, und sagte mir, dass ich mich entspannen solle.
    Ich erklärte den beiden, dass ich angespannt sei, weil Wanjas Adoption über die Bühne gebracht werden musste, solange sich
     Linda in Moskau aufhielt, sich die Frauen im Ministerium jedoch unendlich viel Zeit ließen. Naiv sagte Adela: ›Erklären Sie
     ihnen das einfach, und dann machen sie schneller.‹
    Mir fiel auf,

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