Wolkengaenger
dass Adela von ihrer Stellvertreterin behandelt wurde, als sei sie nicht ganz richtig im Kopf. Alles, was ich
sagte, wiederholte die Frau, als hätte sie es mit einer Demenzkranken zu tun. Doch beide schienen sich auf den Besuch von
Linda und ihrer Familie am nächsten Tag zu freuen und versprachen, noch einmal mit den Wachmännern zu sprechen.«
Als Sarah in Wanjas Gruppe kam, stieß er wie üblich einen schrillen Schrei aus, und Sarahs Ankündigung, »Morgen kommt deine
Mummy«, versetzte ihn in große Aufregung. Er hätte die Neuigkeit am liebsten laut in die Welt hinausgeschrien, schnappte sich
seinen Gehwagen und rannte geradezu aus dem Zimmer, um allen Betreuerinnen zu verkünden: »Meine Mutter kommt und mein Vater
und mein Bruder.« In seiner Vorstellung war er bereits frei.
|216| Was folgte, war eine spontane Abschiedsrunde durch das Babyhaus 10, etwas, das kein Kind je zuvor getan hatte, da alle hinter
verschlossenen Türen in ihren Gruppen gefangen saßen. Während Wanja den Flur im Erdgeschoss entlanglief, rief er Adela zu:
»Ich will Wurst!«, und als er die Frau entdeckte, die die Vorräte verwaltete, verlangte er Schokolade. Ihren missbilligenden
Blick nahm er gar nicht wahr.
Nun machte er sich auf den Weg in die Gruppe, in der Anna, das Mädchen mit dem Rollstuhl, früher gelebt hatte. Sie war inzwischen
in ein Internat überwiesen worden, und Wanja und sie würden sich nie wiedersehen. Die diensthabende Betreuerin war für insgesamt
zehn behinderte Kinder verantwortlich, darunter die traurige kleine Mascha, die aus Gruppe 2 hierher nach unten verlegt worden
war. Infolge der Vernachlässigung waren ihre Beine mittlerweile vollkommen versteift. Auch sie würde bald in ein Internat
verlegt werden, wo sie ganz sicher nicht lange durchhielt.
Als Nächstes wollte Wanja nach oben zur Gruppe 2, seiner alten Heimat. Die Treppe schien zunächst zu eng für den Gehwagen,
doch er bestand darauf, es zu versuchen, und er schaffte es auch. Oben angekommen, stieß er auf die Chefbetreuerin, die ihm
sagte, er könne nicht in Gruppe 2, da der Tagesraum gerade renoviert würde. Unbeeindruckt erklärte er ihr, dass er in den
Schlafraum wolle. Die Frau sagte, dass auch das nicht möglich sei, doch er ignorierte sie einfach, und Sarah tat es ihm nach.
Er zeigte auf den Platz, an dem er immer gesessen hatte. Der Tisch stand nach wie vor dort. Obwohl es noch längst nicht Schlafenszeit
war, hatte man die Kinder in ihre Gitterbetten gesperrt. Von einer Betreuerin fehlte jede Spur.
Nun wollte er nach nebenan zur Gruppe 3, einen Raum, den er noch nie betreten hatte. Sarah klopfte an die Tür, doch nichts
geschah. »Sie hört Sie nicht«, sagte die Chefbetreuerin. »Sie ist taub.« Sarah öffnete die Tür und entdeckte eine gebrechliche
alte Frau, die mindestens achtzig sein musste und für ein Dutzend Zweijährige verantwortlich war. Sie alle verzehrten |217| sich nach Liebe und Zuwendung, doch die Frau konnte sie nicht hören. Offenbar hatten die Kinder gerade zu Mittag gegessen
und baten die Frau um Brot. Sie tat ihr Bestes, um sie zu beruhigen.
Sarah empfand Mitleid für diese alte Frau. Sie machte den Eindruck einer Intellektuellen, die schwere Zeiten hatte durchmachen
müssen. Sie freute sich sehr, Wanja zu sehen, der die Kleinen mitfühlend ansah. Gleichzeitig war er froh, all das hinter sich
zu lassen.
»Die Betreuerin gab zunächst ihm, dann auch mir ein Bonbon, und plötzlich fühlte ich mich selbst wie ein Kind. Hier bot eine
schwache alte Frau ihre ganze Kraft auf, während unten zwei Wachmänner, drei Fahrer – ganz zu schweigen von den unzähligen
Frauen in weißen Kitteln – untätig herumsaßen. Ich hielt es keine Sekunde länger in dem Raum aus und sagte zu Wanja: ›Komm,
lass uns gehen.‹ Er bestand darauf, die Treppe allein hinunterzugehen. Doch ich hatte Angst, dass er ausrutschen und sich
kurz vor der Ankunft seiner Adoptivfamilie das Genick brechen würde, daher trug ich ihn hinunter.«
Sarah spürte vom ersten Moment an, dass Linda sich verändert hatte. Während des ersten gemeinsamen Abendessens sprach sie
pausenlos und überschwänglich von ihren Enkelkindern. Später rief sogar ihre Tochter an, um über einen unbedeutenden Zwischenfall
mit einem ihrer Kinder zu berichten. Seit Lindas letztem Besuch in Moskau hatte ihre Tochter ein drittes Kind bekommen, und
ein viertes war unterwegs. Wie es schien, sah Linda ihre Enkel täglich.
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