Wolkengaenger
und Daddy zu nennen, war Sarah unerträglich. Ihre Kinder, William und Catherine, die Wanja inzwischen ebenfalls
ins Herz geschlossen hatten, flehten sie an, selbst loszufahren und ihn abzuholen. Doch dies war Lindas Aufgabe; Sarah durfte
sich da nicht einmischen.
Um elf Uhr erschien Linda dann schließlich zum Frühstück. Sie klagte über Erschöpfung, wollte eine Pause einlegen und den
Tag in der Stadt verbringen, um nach Souvenirs zu suchen. Wanja erwähnte sie nicht einmal.
Am nächsten Tag nahm Linda Wanja mit in ein Schuhgeschäft, um ihm ein Paar Stiefel zu kaufen. Sie war in der Lage, praktische
Dinge mit ihm zu tun, doch je mehr Zeit verging, desto kühler und kritischer verhielt sie sich ihm gegenüber und überließ
ihn – unter dem Vorwand, dass sie sich nicht wohl fühle – immer häufiger ihren Gastgebern oder den Mitarbeitern des
Telegraph
. George, dem es so gefallen hatte, Papa Jora genannt zu werden, tat es seiner Frau gleich und unterließ es von nun an ebenfalls,
seiner Zuneigung Ausdruck zu verleihen.
Nun schritt Wika zur Tat und organisierte, obwohl ihre Entbindung erst kurz zurücklag, eine Teeparty für Linda, damit sie
all die Menschen kennenlernen konnte, die Wanja im Krankenhaus besucht hatten. Alle erzählten begeistert von den Fortschritten,
die er gemacht hatte, und schwärmten von seinem gutmütigen Wesen. Linda war anzumerken, wie unbehaglich sie sich dabei fühlte,
und Sarah fragte sich, ob ihr all die Lobeshymnen nur noch deutlicher vor Augen führten, dass |225| sie offenbar unfähig war, eine Beziehung zu dem Jungen aufzubauen.
Am Tag ihrer Abreise fuhren die Fletchers ein letztes Mal ins Babyhaus 10. Diesmal begleitete sie Alan als Dolmetscher, da
sich Linda schwer damit zu tun schien, dass Sarah mit Wanja kommunizieren konnte, sie selbst aber nicht. Zum Abschied sagte
sie ihm, dass sie ihn liebe und dass sie zurückkommen würde, sobald der Gerichtstermin für die Anhörung feststünde. Und dann
würde sie ihn in ein neues Leben mitnehmen. Wanja wollte mehr über das Zimmer wissen, das sie für ihn einrichtete. Er bat
sie, ihm noch einmal von der Nachttischlampe zu erzählen, und wollte hören, dass er sie auch wirklich selbst an- und ausknipsen
durfte. Zum ersten Mal seit Tagen umarmte sie ihn und ließ Wanja voller Hoffnung zurück.
Als sie ins Auto zum Flughafen stieg, lächelte sie schließlich. Auf dem Schoß hatte sie zwei Kuchen – ihre Souvenirs aus Russland.
Sarah hätte Linda während dieser letzten Tage in Moskau am liebsten unverblümt gefragt: »Wollen Sie Wanja wirklich? Wir spüren
eine gewisse Feindseligkeit ihm gegenüber.« Doch sie schwieg. Rückblickend sagt sie: »Bis heute versuche ich herauszufinden,
warum ich nichts gesagt habe. Obwohl sie sich immer mehr von ihm distanzierte, blieb Linda dabei, dass sie ihn adoptieren
wolle. Sie habe gekämpft und zahllose bürokratische Hürden genommen, um bis hierher zu kommen. Und das Hauptproblem war: Wie
hätte Wanjas Alternative ausgesehen? Ein sukzessiver Tod in einem Anstaltsgitterbett. Vielleicht habe ich deshalb nichts gesagt.
Linda war seine einzige Hoffnung.«
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|226| 18.
WEIHNACHTSPUDDING IM JULI
Juli 1998
Linda verließ Moskau nicht nur – sie verschwand regelrecht von der Bildfläche. Weder rief sie an, um zu sagen, dass sie und
ihre Familie gut zu Hause angekommen waren, noch, um sich nach Wanja zu erkundigen. Sarah und Alan hörten rein gar nichts
von ihr. Doch dann, zwei Wochen nach Lindas demütigendem Besuch bei Frau Morozowa, traten die russischen Bürokraten auf den
Plan und legten eine neue Liste mit Forderungen vor: Linda sollte fünf weitere Dokumente beschaffen.
Sechs Tage lang versuchte Sarah, Linda zu erreichen, um ihr mitzuteilen, was man von ihr verlangte, doch stets sprang nur
deren Anrufbeantworter an. Sie probierte es wieder und wieder, während sie ihre restliche Zeit damit verbrachte, mit Blick
auf ihren bevorstehenden Umzug die Habseligkeiten ihrer Familie zu sortieren. In Kürze würde das Einpackkommando bei ihr einfallen,
und aus Erfahrung wusste sie, dass es gleich einem Tornado durch ihre Wohnung fegen würde.
Als sie Linda endlich erreichte, gab sie sich alle Mühe, optimistisch zu klingen.
»Sie werden es nicht glauben, Linda, aber die reiten weiter auf der Agentur herum, die die Tauglichkeitsprüfung durchgeführt
hat.«
»Ich dachte, das hätten wir bereits hinter uns«, blaffte Linda.
»Nun,
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