Wolkengaenger
ihrer Rückkehr voll und ganz auf ihre Enkel und ihren Sohn zu konzentrieren. Als Sarah sie
endlich wieder einmal telefonisch erreichen konnte, erkundigte sie sich nicht ein einziges Mal nach Wanja oder zeigte sich
ihm gegenüber in irgendeiner Weise besorgt. Sie redete nur über ihre eigene Familie und ihre Arbeit.
Sarah wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte. Da kamen ihr glücklicherweise drei Frauen mit dem nötigen Sachverstand zur
Hilfe: Rachel, Ann und Mary. Rachel, die Anwältin und Vermittlerin, die Wanjas Charme bereits bei ihrem ersten Besuch im Babyhaus
erlegen war, bot sich sofort an, Linda bei der Beschaffung der erforderlichen Dokumente zur Seite zu stehen. Zudem erklärte
sie sich bereit, zukünftig die Telefonate mit Linda zu übernehmen.
Ann, die Sozialarbeiterin, der Linda während ihres Besuchs in Moskau ihr Herz ausgeschüttet hatte, willigte ein, im Babyhaus
vorbeizuschauen, um ein fachmännisches Urteil über Wanjas psychische Verfassung abzugeben. Sie konnte bestätigen, dass ihn
die Unsicherheit über den Zeitpunkt seiner Adoption traumatisiere, und bezeichnete es als besorgniserregend, dass die Fletchers
keinen Kontakt mit ihm hielten.
Mary war eine amerikanische Psychologin und Expertin in Sachen Adoption und Pflegefamilien. Zusammen mit einem jungen russischen
Anwalt namens Igor reiste sie quer durch ganz Russland und besorgte Kindern, die in Waisenhäusern lebten, Visa für medizinische
Behandlungen in den USA. Obwohl Marys Visum lange abgelaufen war, kam sie spielend durch jede Passkontrolle, indem sie vorgab,
nicht zu verstehen, was die Beamten von ihr wollten, bis diese schließlich aufgaben und sie ziehen ließen. Sarah hatte Mary
rein zufällig |230| während eines Besuchs bei Elvira, Wanjas Freundin aus dem Krankenhaus, kennengelernt, und sie hatte Sarah spontan ihre Hilfe
angeboten.
Wanjas neues Unterstützer-Komitee hatte gerade einen Plan zur Beschaffung der noch erforderlichen Dokumente ausgearbeitet,
als Grigori bei Sarah anrief. Das Umzugskommando war mittlerweile gleich einer Heuschreckenplage in ihre Wohnung eingefallen
und arbeitete, wenn auch sehr effizient, so doch äußerst kopflos. Soeben hätten sie beinahe einen vollen Aschenbecher mitsamt
Zigarettenkippen eingepackt.
Vor Aufregung noch ganz außer Atem, ließ Grigori die Bombe platzen. »Ich habe einen Gerichtstermin!«, verkündete er. In seiner
Stimme klang neu gewonnene Autorität mit. »Am 7. Juli ist die Anhörung.«
Sarah war vollkommen perplex. »Wie um alles in der Welt haben Sie das denn geschafft? Das ist ein Wunder.«
»Da ich mich mit den Frauen vom Ministerium überworfen habe, hätten sie der Adoption niemals zugestimmt. Also habe ich Plan
B in Kraft gesetzt. Ich bin sie umgangen und direkt zur Richterin.«
Aus dem Augenwinkel sah Sarah, wie einer der Einpacker gerade ihren schwersten gusseisernen Topf von Le Creuset ganz oben
in einen Karton voller Glasgeschirr packte.
»Aber Grigori, der Termin ist schon in zwölf Tagen. Ich bezweifle, dass die restlichen Dokumente bis dahin fertig sind.«
»Egal. Vergessen Sie die Dokumente. Die Richterin braucht sie nicht.«
»Aber wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu beschaffen. Und jetzt wollen Sie mir sagen, dass wir sie gar
nicht brauchen?«
»Ganz genau. Diese Frauen vom Ministerium wollten sie haben. Aber jetzt ist die Richterin für den Fall zuständig, und sie
sagt, sie braucht sie nicht.«
Das alles klang zu schön, um wahr zu sein. Wie war es möglich, |231| dass diese Frauen so plötzlich weg vom Fenster waren? Grigori blieb dabei, das Gesetz auf seiner Seite zu haben.
Die Richterin stellte nur eine einzige Bedingung: Beide Adoptiveltern mussten der Anhörung beiwohnen. War einer der beiden
nicht anwesend, würde die Sache vertagt. Grigori übertrug Sarah die Aufgabe, dies den Fletchers unmissverständlich klarzumachen.
Sarah hinterließ eine Nachricht auf Lindas Anrufbeantworter: Der Termin für die Anhörung stünde fest; die ständig quertreibenden
Bürokraten seien Geschichte. Die Anhörung sei reine Formsache – die Richterin habe die Dokumente bereits abgesegnet. All ihre
Probleme seien gelöst. Alles, was George und sie nun tun müssten, sei, nach Moskau zu kommen und der Anhörung beizuwohnen.
Dann könnten sie Wanja mit nach Hause nehmen.
Sarah hinterließ die Nachricht morgens, englische Zeit. Den ganzen Tag über hörte sie nichts von den Fletchers.
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