Wolkengaenger
er in einer häuslichen Umgebung
ärztlich betreut werden, und seine Pflegemutter würde von einem Expertenteam bezahlt und unterstützt werden.
»Es wäre die perfekte Lösung«, sagte Ann.
»Einen Moment noch«, erwiderte Rachel. »Er kann nicht in eine Pflegefamilie, solange das Adoptionsverfahren noch läuft. Linda
muss also davon überzeugt werden, ihr Adoptionsersuchen zurückzuziehen.«
|236| Mary bot an, das zu übernehmen. Inzwischen war es drei Uhr morgens. Mary und Igor gingen als Letzte. Es dämmerte bereits,
und Mary warf einen Blick zum Himmel und fragte Igor: »Können wir Wanja vor unserer Abreise noch kurz besuchen? Unser Flug
geht erst in sechs Stunden. Wir könnten auf dem Weg zum Flughafen am Babyhaus 10 halten.«
»Nein. Dafür ist keine Zeit. Wir haben schon genug Flüge verpasst.« Igor ließ sich nicht erweichen.
Die beiden erreichten ihr Flugzeug, und Mary fand alsbald Zeit, mit Linda zu telefonieren. Fünf Tage nach der nächtlichen
Beratschlagung in Sarahs Küche informierte Mary sie darüber, dass Linda beinahe gestanden hatte, dass sie die Adoption im
Grunde nicht mehr wollte. Sie hatten über eine Stunde miteinander gesprochen. Mary hatte Linda beschworen, dass sie nicht
aus Pflichtgefühl handeln dürfe, sondern sich über ihre Gefühle klarwerden müsse. Eine Bindung zu einem Kind könne nicht erzwungen
werden; entweder entwickle sich das von selbst oder gar nicht. Ohne Bindung zu dem Kind würde jeder gemeinsame Tag zu einer
Zerreißprobe, und Wanja wäre der Erste, der das zu spüren bekäme.
Linda wiederum hatte ihr gestanden, wie sehr sie sich unter Druck gesetzt und manipuliert fühle, woraufhin Mary ihr versichert
hatte: »Niemand versucht Sie zu bedrängen oder möchte Sie in eine Lage bringen, in der Sie sich selbst dazu zwingen, das hier
zu tun.«
Was die Bindung zu Wanja betraf, hatte Linda sich unbesorgt gezeigt. Wanja würde sich eben einfügen müssen, wie ein Neugeborener.
Doch Mary hatte auf ihre langjährige Erfahrung mit Adoptionen verwiesen und ihr gesagt, dass eine Geburt etwas ganz anderes
sei. Eine Adoption könne nur dann gelingen, wenn die Mutter in der Lage sei, zu dem angenommenen Kind eine ebenso enge Bindung
aufzubauen wie zu ihren leiblichen Kindern. Das Gespräch endete offen, doch Mary war sich sicher, dass Linda kurz davorstand,
den Antrag zurückzuziehen.
Als Nächstes führte Rachel ein langes Telefonat mit Linda. |237| Sie drehten sich bereits seit einiger Zeit im Kreis, und Linda war in Tränen aufgelöst, als Rachel plötzlich auf eine Idee
kam, wie sie Linda ihre Situation besser vor Augen führen konnte. Sie war gerade dabei, das Gespräch in die gewünschte Richtung
zu lenken, als sie ein klirrendes Geräusch aus der Küche vernahm. Ihre fünfjährige Tochter musste ein Glas heruntergeworfen
haben. Rachel rief sich in Erinnerung, ob die Kleine Schuhe anhatte, schob ihre Besorgnis beiseite und redete weiter auf Linda
ein: »Stellen Sie sich folgende Situation vor, Linda: Ein Paar möchte heiraten, die Hochzeit ist bereits organisiert. Da kommen
einem der beiden Zweifel. Würden Sie ihnen trotzdem raten, es durchzuziehen?«
Linda schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Nein.«
»Nun, Sie sind in der gleichen Situation.«
Rachel konnte spüren, dass Linda endlich begann, ihre Situation zu realisieren. Sie nutzte den günstigen Moment, um Linda
zu eröffnen, dass sich Wanja nun andere Möglichkeiten boten, betonte aber im gleichen Atemzug, dass es einzig Lindas Interesse
gewesen sei, das Wanja in den vergangenen zwei Jahren vor der Einweisung in eine Anstalt gerettet habe. Ohne Linda wäre Wanja
verloren gewesen. Wenn sie die Adoption nun nicht mehr wolle, war es besser, das Gesuch zurückzuziehen.
Am nächsten Tag schickte Linda Grigori ein Fax, in dem sie ihn bat, ihren Antrag auf Adoption zurückzuziehen. Am gleichen
Abend waren Sarah und Alan Ehrengäste eines Abschiedsessens in der Residenz des britischen Botschafters. Sarah und Alan hatten
die Gästeliste selbst zusammenstellen dürfen, und so hatten sie einige Wegbereiter von Menschenrechtsorganisationen unter
die üblichen Diplomaten, Journalisten und Bankiers gemischt – unter anderem Maria, die Vorsitzende des Pflegeeltern-Projekts.
Bevor Sarah und Alan zu dem Empfang aufbrachen, schrieben sie einen langen Brief an Maria, in dem sie sie in aller Form baten,
Wanja in ihr Projekt aufzunehmen, eine Pflegemutter für ihn zu
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