Wolkengaenger
Auch am nächsten
Tag meldete sich niemand zurück. Als sie Linda am Abend des nächsten Tages dann endlich erreichte, gab diese ihr zu verstehen,
dass sie die Nachricht zwar abgehört, im Moment jedoch keine Lust habe zu reden. Sie sei gerade am Packen für einen Wochenendausflug,
da sie dringend einmal rausmüsse. Am Montag sei sie wieder zurück. An diesem Abend vertraute Sarah ihrem Tagebuch ihre schlimmste
Befürchtung an: Linda würde Wanja nicht adoptieren.
Der darauffolgende Montag wurde zum Tag der Entscheidung. Grigori schickte Linda ein Fax. Vor gerade einmal zwei Tagen hatte
der russische Präsident gesetzlich festgelegt, dass die Anwesenheit beider Adoptivelternteile bei der Anhörung vor Gericht
erforderlich war. Am Morgen hatte die Richterin Grigori noch einmal daran erinnert, dass das Fernbleiben eines Elternteils
eine Vertagung zur Folge hätte, und betont, dass es unmöglich sei, diese Forderung zu umgehen. Unterdessen gelang es Alan,
British Airways davon zu überzeugen, die Fletchers kostenlos zur Anhörung und zusammen mit Wanja wieder zurück nach England
zu bringen.
|232| Diesmal ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Um 18 Uhr ratterte Grigoris Faxgerät und spuckte einen handgeschriebenen
Brief von Linda an das Gericht aus. Sie schrieb, dass sich ihre eineinhalbjährige Enkelin ein Bein gebrochen habe, und sie
ihrer Tochter nun bei der Betreuung der anderen Kinder helfen müsse. Des weiteren könne sie es sich als selbständige Physiotherapeutin
nicht leisten, Patiententermine kurzfristig abzusagen. Sie würde außerdem ihren fünfzehnjährigen Sohn mit nach Moskau bringen,
ihn aus der Schule nehmen müssen und hätte Zusatzkosten. Sie war bereit, ihrem Mann eine Vollmacht auszustellen, damit er
sie vor Gericht vertreten konnte.
Wanjas Unterstützer hatten für diese Entschuldigungen wenig Verständnis: Sie klangen wie Ausreden, die man benutzte, um ein
gesellschaftliches Ereignis sausen zu lassen – nicht aber einen Termin, von dem das Schicksal eines Kindes abhing. Grigori
schnaubte, als er das Fax las. Es lag auf der Hand, dass diese Familie der Sache nicht länger gewachsen war.
Zwei Tage später rief British Airways an, um zu fragen, ob die Fletchers das Angebot mit den Freiflügen annähmen. Sie erwarteten
ihre Antwort bis 12 Uhr mittags, englischer Zeit. Rachel wurde daraufhin gebeten, Linda zu kontaktieren und ihr zu sagen,
dass es Zeit sei, sich zu entscheiden. Auch diesmal konnte sie nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.
Als Linda ein paar Stunden später zurückrief, klang sie verbittert und verletzt. Sie bezweifelte, dass es eine Frist für die
Flugtickets gäbe, und hielt es für einen Vorwand, um sie unter Druck zu setzen. Sie bezeichnete ihre Gründe, warum sie nicht
nach Moskau reisen könne, als triftig: Da Hochsommer war, seien alle Tierheime voll, und sie wisse nicht wohin mit ihrem Hund.
Ihre Enkelin habe Probleme mit dem Gips. Ihr Mann würde seinen Job verlieren, wenn er sich noch einmal freinahm. Sie habe
sich vor den britischen Behörden vollkommen entblößen müssen, und die seelischen Wunden, die sie dabei davongetragen hatte,
waren nicht einmal ansatzweise |233| verheilt. Doch trotz all der Verzögerungen, Kosten und Widrigkeiten, trotz Schmerz und Leid, und trotz des enormen Drucks,
unter dem sie stand, versicherte sie, Wanja nach wie vor adoptieren zu wollen.
Doch diese Aussage verkomplizierte das Ganze nur. Wie konnte sie nicht zur Anhörung erscheinen, aber weiter an der Adoption
festhalten? Es ergab keinen Sinn. Am Abend berief Sarah eine Krisensitzung an ihrem Küchentisch ein, um die aktuelle Lage
und das weitere Vorgehen zu besprechen. Mary, die durch ganz Russland gereist war, unzählige Adoptionen von Waisenkindern
organisiert und selbst acht Kinder zu sich genommen hatte, war eindeutig die Expertin in der Runde. Da sie am nächsten Morgen
zurück nach Amerika fliegen würde, musste sie sich schnell etwas einfallen lassen.
Die Küche war inzwischen vollkommen ausgeräumt, doch ganz oben im Regal fand Sarah noch einen Weihnachtspudding, den sie mit
Sahne aßen und dazu jede Menge Kaffee tranken. Mary erklärte, dass das Wichtigste bei einer Adoption die Bindung zwischen
Mutter und Kind sei. Kam diese zustande, fügte sich auch alles andere ineinander. Es war daher wichtig, sich die Beweggründe
der Adoptivmütter anzusehen. Sie nahm einen Zettel zur Hand und
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