Wolkengaenger
unterteilte ihn in zwei Spalten, die für die zwei Arten von
Adoptivmüttern standen. In Spalte A schrieb sie »eigennützig« und »Ich habe ein Bedürfnis, und dieses Kind kann es stillen«.
In Spalte B schrieb sie »selbstlos« und »Dieses Kind hat ein Bedürfnis, und ich kann es stillen«. Die Mütter in Spalte B waren
vorzuziehen: Ihre Herzen und Heime und Bankkonten waren auf die Bedürfnisse eines hilfsbedürftigen Kindes ausgerichtet. Die
Erfolgsaussichten bei diesen Mütter waren sehr hoch.
Problematischer gestaltete es sich bei Frauen, die selbst bedürftig waren und sich ein Kind zum Zwecke der Selbstbestätigung
wünschten. Das waren die Mütter in Spalte A. Die Realität jedoch, sagte Mary, sei weder schwarz noch weiß: Die Beweggründe
vermischten sich, und manchmal war es schwer zu sagen, ob eine Mutter Typ A oder Typ B war.
|234| Als Linda das erste Mal nach Moskau gekommen war, hatte alles darauf hingedeutet, dass sie in Kategorie B fiel. Sie besaß
die nötigen Fähigkeiten, um sich um Wanja zu kümmern, und war bereit, sich ihm zu öffnen und ihn in ihre Familie aufzunehmen.
Doch bei ihrem zweiten Besuch ein Jahr später machte sie mehr und mehr den Eindruck, als sei sie in Kategorie B gewechselt.
»Was also ist in diesem Jahr geschehen, das sie so verändert hat?«, fragte Mary und sah Sarah an, die nun laut zu denken begann:
»Sie redet ununterbrochen von ihren Enkelkindern. Bei ihrem ersten Besuch hat sie sie nicht einmal erwähnt.«
»Aber warum?«
»Es hatte wohl einen Streit gegeben.« Plötzlich dämmerte es ihr. »Aber dann hat sie sich offenbar ihren Familienmitgliedern
wieder angenähert.«
»Es fand also eine Versöhnung statt?«
»Ja.«
»Dann haben wir unsere Antwort«, sagte Mary. »Den Grund, weshalb sie ein Kind adoptieren wollte, gibt es nicht mehr. Sie hat
nun alle Hände voll mit ihren Enkeln zu tun. Sie braucht Wanja nicht mehr.«
Sarah kam etwas in Erinnerung, das sie im Mai getan hatte, und sie fühlte sich schuldig. Sie erzählte Mary, dass sie Wanja
dazu ermutigt habe, Linda Zuneigung zu schenken, die jedoch nicht erwidert worden war. Mary überraschte das nicht. »Wie soll
er Bedürfnisse stillen, die der andere gar nicht hat?«
Rachel meldete sich zu Wort. »Ihr habt etwas vergessen. Linda hat nicht vorhergesehen, was eine Adoption für ihren leiblichen
Sohn bedeuten würde. Als sie dann mit ihm nach Moskau kam, war Philip anzusehen, wie unzufrieden ihn die Vorstellung machte,
ersetzt zu werden.«
»Aber warum hält sie dann weiter an der Adoption fest?«
»Sie fühlt sich verpflichtet und möchte Wanja nicht im Stich lassen. Doch tief in ihrem Innern will sie nicht mehr. Das Ganze
ist der Familie über den Kopf gewachsen.«
Ann schlug vor, die Sache einmal aus Lindas Blickwinkel zu |235| betrachten: Als sie Alans Artikel im
Telegraph
las, glaubte sie, einem Hilferuf zu folgen. Daher hielt sie es für Alans Pflicht, ihr den Weg zu eben und sämtliche Probleme
aus der Welt zu schaffen.«
»Aber uns blieb doch gar nichts anderes übrig, als ihr zu helfen«, warf Sarah ein. »Sie wirkte so entschlossen. Und eine Adoptionsagentur
konnte sie sich nicht leisten.«
»Ja, aber schauen Sie sich an, was das zur Folge hatte«, sagte Rachel. »Ohne Sie hätten es die Fletchers niemals so weit geschafft;
ihre Vorstellung von den eigenen Fähigkeiten war unrealistisch. Als sie dann auf Schwierigkeiten stießen, fehlte es ihnen
an Mitteln, Kraft und Zeit.«
Die Frage war, was nun geschehen sollte. Sarah fand eine letzte verstaubte Flasche Curaçao im Schrank und bot sie ihren Gästen
an. Rachel riet Sarah und Alan, von nun an nichts mehr für die Fletchers zu tun. Bestenfalls erschien keiner der beiden zu
der Anhörung, und wenn sie dafür keine plausible Erklärung hätten, wäre der Fall damit erledigt.
Doch was würde dann mit Wanja passieren? Rachel unterbreitete den anderen einen Plan, der ihn vor der erneuten Einweisung
in eine Irrenanstalt retten könnte: Sie sollten sich an Maria wenden, eine hochmotivierte junge Russin, die das erste Pflegeelternprojekt
des Landes ins Leben gerufen hatte – eine historische Initiative, tatsächlich ein erster Versuch, Kinder vor staatlichen Einrichtungen
zu retten. Maria hatte bislang noch nie ein Kind in ihr Projekt aufgenommen, das nicht laufen konnte, daher war es alles andere
als sicher, dass Wanja dafür in Betracht kam. Doch sollte sie sich für ihn entscheiden, würde
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