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Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Titel: Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Beldt
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oder?«
    »Seit ungefähr vierzig Jahren«, entgegnete ich.
    Sie sah mich an, als könnte sie nicht glauben, dass eine so hohe Zahl überhaupt existierte. Mir kam es auf einmal selber merkwürdig vor. Was hatte ich in all den Jahren eigentlich gemacht? An einige wichtige Eckdaten konnte ich mich zwar noch erinnern, aber alles dazwischen entzog sich meiner Kenntnis. Mein Leben präsentierte sich plötzlich wie die Geschichte eines antiken Volkes: Man kannte einige Zahlen und Ereignisse, aber wie die Menschen ihr Leben genau herumgebracht hatten, blieb weitgehend verschwommen.
    Zoe hielt ihre Hände vors Gesicht und knickte den kleinen und den Ringfinger der rechten Hand ein. »So alt bin ich«, sagte sie und blickte mich stolz an.
    »Also acht Jahre«, sagte ich, »das ist ja schon mehr als eine Hand!« Es rührte mich irgendwie, dass ihr Alter noch problemlos mit zwei Händen dargestellt werden konnte. Je mehr Hände man dafür benötigte, desto komplizierter wurde auch das Leben.
    »Ich glaube nicht, dass du schon so alt bist«, meinte Zoe sehr ernst.
    »Ich auch nicht«, erwiderte ich genauso ernst.
    Wir überquerten die Straße und gingen eine Nebenstraße hinunter. Zoe marschierte voran. Ich bemühte mich, Schritt zu halten. Ein fülliger älterer Mann, der mit Sporttasche hinter einem Piratenmädchen herhetzte. Was wohl die Leute über uns dachten. Mir selbst kam es auf einmal abenteuerlich vor, dass ich überhaupt auf ihr Angebot eingegangen war. War es lediglich der Versuch, Jutta und mir etwas zu beweisen, oder gab es noch andere Gründe?
    Dort, wo die Straße wieder leicht anstieg, bog Zoe nach rechts in einen kleinen Park. »Eltern haften für ihre Kinder« stand groß auf einem Schild.
    Vor uns erstreckte sich ein von Villen und Gärten umrahmter See.
    »Siehst du die Brücke dahinten?« Zoe deutete auf eine kaum erkennbare steinerne Brücke vor einem Waldstück, an dem der See offenbar endete. Mindestens dreihundert Meter lagen zwischen uns und der Brücke. Ich ahnte Schlimmes.
    »Du schwimmst bis zur Brücke und da warte ich dann auf dich, verstanden?«
    Ich ließ mir meine Nervosität nicht anmerken. »Und dann habe ich den Test bestanden?«, fragte ich, nur um sicherzugehen, dass es sich nicht wieder um einen Vortest handelte.
    Sie grinste, als freute sie sich heimlich darüber, einen erwachsenen Mann so ohne weiteres über einen See schicken zu können.
    Dabei hatte ich eigentlich gar nicht vorgehabt, Pirat zu werden. Andererseits wusste ich nicht, was ich sonst werden sollte. Musste man in meinem Alter überhaupt noch etwas werden? Reichte es nicht, dass man es bis hierhin ohne größere Blessuren geschafft hatte?
    Weil ich vor Zoe nicht als Schwächling dastehen wollte, willigte ich schließlich ein.
    Während ich mich auszog, stocherte Zoe mit einem Stock im Wasser. Ich legte meine Sachen ordentlich gefaltet in die Tasche und stellte mich dicht ans Ufer, sodass meine Zehen das Wasser berührten. Als mich Zoe in der Bikinihose sah, kriegte sie sich kaum noch ein vor Lachen. Sie hielt die Hand vor den Mund und trampelte auf der Stelle. In diesem Moment erinnerte ich mich, wie ich auf einer Klassenfahrt einmal von einer Gruppe Mädchen nackt im Duschraum erwischt worden war. Noch heute hatte ich ihr lautes Kreischen im Ohr. Nun wurde mir klar, dass sie nicht über mich gelacht hatten, sondern über ihre eigene Scham.
    »So siehst du später auch mal aus«, erklärte ich ruhig, worauf ihr Lachen sofort verstummte.
    »Dann sehen wir uns an der Brücke«, sagte sie schnell, griff sich meine Tasche und lief davon.
    Vorsichtig bugsierte ich meinen schweren Körper ins Wasser, bis der Pegel meinen Bauch erreicht hatte. Meine Füße begannen langsam im Schlamm zu versinken. Ich war noch nie in einem See geschwommen. Mir wurde mulmig bei der Vorstellung, dass armlange Fische Jagd auf meine Zehen machten.
    Nachdem ich mich mit Wasser bespritzt hatte, ließ ich meinen Körper in Zeitlupe nach vorne kippen. Die Wellen schlugen über meinem Rücken zusammen. Ich brauchte einige Züge, bis ich meinen Rhythmus gefunden hatte. Es war seltsam, dass der Körper gewisse Dinge nie verlernte, während der Geist dauernd trainiert werden musste.
    Bis auf einige Enten war ich ganz allein auf dem See.
    Schon nach wenigen Minuten bemerkte ich, wie die Enten neugierig näher kamen. Ein schwimmender Kopf war offenbar eine willkommene Abwechslung in ihrem bescheidenen Entenalltag. Ich fragte mich seit Längerem, ob so ein Tier

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