Wollust - Roman
Tinsley gab ihm das Handy. »Sie können alle Nummern durchgehen, die ich angerufen habe. Das wollen Sie doch, oder?«
»Mit Ihrem Einverständnis?«
»Wahrscheinlich ist es ja normal, jeden zu verdächtigen. Die meisten meiner Telefonate sind geschäftlich, aber wahrscheinlich sind auch ein paar an meine Freunde dabei. Ich sag Ihnen, welche Nummer zu wem gehört. Alles, solange ich nur nicht an das da denken muss.«
Tinsley deutete auf das Haus und meinte vermutlich den Leichnam. Kurz darauf sah Decker einen schnauzbärtigen, dunkelhaarigen Mann, der, von Officer Mary Breckenridge eskortiert, quer über das Gelände stürmte. Das Gesicht des Mannes bestand nur aus Narben, Furchen und Kratern, mit einem gespaltenen Kinn und einem schwarzen lockigen Haarschopf. Seine Augen waren überschattet von ausladenden Brauen, und er ging o-beinig. Seine Größe lag etwa bei eins fünfundsiebzig, und er schien Ende vierzig zu sein.
»Das ist der Bauunternehmer, Lieutenant.« Tinsley brüllte los und ruderte mit den Armen: »Hey, Keith, hierher!«
»Was zum Teufel ist denn passiert?« Wald ging noch schneller. »Was ist los?«
»Officer Breckenridge«, sagte Decker, »bitte begleiten Sie doch Mr. Tinsley schon mal zum Streifenwagen, damit er seine Aussage aufschreiben kann.«
»Natürlich, Sir.« Breckenridge stupste Tinsley sanft Richtung Auto. »Hier entlang, Sir.«
»Halt, halt, halt«, rief Wald, »ich muss mit diesem Mann reden.«
»Das können Sie erledigen, sobald Sie mit mir gesprochen haben.« Decker stellte sich vor.
Wald streckte ihm die Hand entgegen. »Also gut. Könnten Sie mich jetzt darüber aufklären, was hier verdammt noch mal vor sich geht? Chuck sagte was von einer Leiche, die an den Dachsparren hängt.«
»Was hat er Ihnen noch gesagt?«
»Dass es eine Frau ist. Meine Güte, wie grauenhaft.« Wald blickte auf seine Uhr. »Der städtische Bauaufseher soll in einer Stunde hier sein.«
»Sie werden das Treffen absagen müssen«, sagte Decker. »Niemand darf das Gelände betreten, bevor wir mit allem fertig sind.«
»Die Hausbesitzer werden explodieren. Wir hinken eh schon ein paar Monate hinterher. Nicht mein Fehler. Hausbesitzer ändern gerne immer mal wieder ihre Meinung.«
»Könnte ich die Namen der Hausbesitzer erhalten?« Als Wald sichtlich zusammenzuckte, fügte Decker hinzu: »Die Presseleute werden es sowieso herausfinden. Da ist es am besten, sie erfahren es von ganz offizieller Seite.«
»Ja, stimmt. Grossman – Nathan und Lydia. Er ist Arzt, also habe ich es meistens mit ihr zu tun.«
»Haben Sie eine Telefonnummer?«
»Ja … warten Sie.« Wald durchforstete seinen BlackBerry, und sein Schnauzbart zuckte hin und her, wenn er die Oberlippe bewegte. »Da ist sie.«
Decker notierte sich die Nummer auf seinem Notizblock. »Was können Sie mir über die Grossmans sagen?«
»Er ist um die sechzig, sie ist jünger … vielleicht vierzig. Sie haben zwei Kinder im Teenageralter, Jungs – fünfzehn und dreizehn. Ich glaube, er hat noch einen Sohn aus einer anderen Ehe. Mein Gott, schrecklich!«
Die tote Frau schien kein Teenager mehr zu sein, daher stachen die beiden Jungs nicht als Hauptverdächtige ins Auge. Trotzdem musste man sie sich genau ansehen. »Wie alt ist der Sohn aus erster Ehe?«
»Keine Ahnung.« Wald wurde kreidebleich. »Warum fragen Sie das?«
»Reine Routine. Ich möchte jeden kontaktieren, der mit diesem Ort in Verbindung steht«, antwortete Decker. »Wissen Sie, wie er heißt?«
»Nein.«
»Dann erfahre ich es von den Hausbesitzern. Könnten Sie mich jetzt begleiten und einen Blick auf den Leichnam werfen? Ob die Frau Ihnen vielleicht bekannt vorkommt?«
»Ich?«
»Wir haben sie immer noch nicht identifiziert. Vielleicht ist es ja jemand aus der Nachbarschaft.«
»Wenn ich hier bin, arbeite ich und verbringe nicht viel Zeit damit, den Ladys hinterherzuglotzen.«
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar für einen kurzen Blick.«
»Oh Gott.« Wald atmete tief durch. »Also gut.«
»Danke.« Decker führte ihn zum Tatort und entfernte zum zweiten Mal das Laken, um ihr Gesicht zu entblößen. Es war immer noch aufgequollen und leuchtend rot, aber jetzt waren ihre Gesichtszüge erkennbar als die einer jungen Frau. Er sah nun genau die dunkellila verfärbte Strangfurche des Kabels, das in Höhe des Adamsapfels in ihren Hals eingeschnitten hatte.
Und er konnte nun mit Sicherheit sagen, dass es sich bei der Leiche nicht um Terry McLaughlin handelte.
Eine Sache
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