Wollust - Roman
ihr reden.«
»Aber sie geht nicht an ihr Handy«, fügte Oliver hinzu.
»Vielleicht mag sie es nicht, Anrufe mit unterdrückter Rufnummer zu bekommen«, schlug Marge vor, »und deshalb habe ich eine Idee. Warum rufen Sie sie nicht an und fragen sie, wo sie gerade ist?«
»Ich soll sie verpfeifen?«
»Darum geht’s doch gar nicht. Sie sollen sie nur… lokalisieren, mehr nicht.«
»Und wir wissen, Sela«, sagte Marge, »dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun wollen, um Adriannas Mörder zu finden.«
Sela massierte mit Hingabe ihre Schläfen. Dann griff sie nach ihrem Handy und wählte eine Nummer. »Hey, wo steckst du? … Nein, ich kann nicht vorbeikommen, ich muss Kathy Blanc besuchen. Hast du sie schon angerufen? … Ja, hatte ich versprochen. Ich bin mir sicher, sie wird dich auch gerne sehen wollen … Nein, ich sage das nicht einfach so, ich meine ja nur… Nein, das muss nicht jetzt gleich sein… Crys, wie bist du denn drauf? … Nein, ich beschimpfe dich nicht, aber… Ich weiß, du fühlst … ach, Liebes … hör auf zu weinen, ja? … Es tut mir leid, okay … Ich fühle mich auch scheiße, aber ich
kann jetzt nicht vorbeikommen und was trinken. Ich muss morgen arbeiten – ich ruf dich an … okay … okay … okay … okay, mach ich. Tschüss.« Sela wandte sich den Polizisten zu. »Jetzt ist sie richtig sauer auf mich. Zufrieden?«
»Wo steckt sie?«
»Im Port Hole in Marina Del Rey.«
»Haben Sie vielen Dank, Ms. Graydon.«
»Nennen Sie mich Sela, und ja, ich fühle mich wie ein Spitzel.« Sie stand auf und griff nach ihrer Handtasche. »Wenn sie Sie fragt, wie Sie sie gefunden haben, dann erwähnen Sie bloß nicht meinen Namen.«
Als Hannah in die Auffahrt einbog, bekam Gabe Bauchschmerzen. Obwohl die Schule nicht seine Schule war, so hatte sie doch das gewohnte Umfeld geboten – Kinder, Lehrer, Klassenzimmer, abschließbare Schränke. Bei ihr zu Hause war er ein Außerirdischer. Er wollte sich nicht mit ihrer Mutter unterhalten müssen. Sie wirkte nett, aber wie die meisten Mütter war sie eine ganz normale Mom. Seine Mom war anders: halb Mom, halb Vertraute, halb Beschützerin, halb Mitverschworene. Sie beide hatten pausenlos Strategien entwickelt, wie sie es vermeiden konnten, seinem Dad auf die Nerven zu gehen. Meistens waren sie damit erfolgreich. Manchmal eben auch nicht, und ein genervter Chris Donatti war eine gefährliche Sache. Betrunken hatte er schon mehrmals einfach nur aus Spaß auf Gabe geschossen. Sein Dad gab immer den gleichen Kommentar dazu ab: Hör auf, so verängstigt aus der Wäsche zu gucken. Hätte ich dich umbringen wollen, wärst du jetzt tot.
Er liebte seine Mom – wirklich –, aber sie hatte ein paar schlechte Entscheidungen für ihr Leben getroffen. Seine Verachtung hielt sich aber deutlich in Grenzen. Er würde ja nicht existieren, wäre sie klüger gewesen. Ein Teil von ihm liebte sogar seinen Dad. Seine Eltern waren seine Eltern. Und jetzt waren
sie beide verschwunden, und er hing mal wieder in der Luft. Auf eine perverse Art war dieser Tag einer der einfachsten gewesen, seit er sich erinnern konnte: Er hatte sich mit keinem der beiden arrangieren müssen.
Hannah stellte den Motor ab. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja.« Er nahm seine Brille ab, säuberte sie an seinem T-Shirt und setzte sie wieder auf. »Klar.«
»Hm, ich glaube, meine Schwester und mein Schwager sind da. Vielmehr weiß ich, dass sie da sind. Das ist ihr Auto.«
»Okay.«
»Wollte dich nur vorwarnen. Meine Mutter ist eine großartige Köchin. Mit Cindy und Koby als Gäste beim Abendessen wird es das reinste Gelage werden. Fühl dich bloß nicht verpflichtet, alles zu essen.«
»Ich glaub, heute hab ich total vergessen, überhaupt was zu essen. Ich bin ziemlich hungrig. Wie alt ist deine Schwester?«
»Mitte dreißig. Sie stammt aus der ersten Ehe meines Vaters. Sie ist Polizistin. Koby ist Krankenpfleger, ein richtig toller Typ. Meine Schwester ist vielleicht schwanger, und das könnte der Grund sein, warum sie da sind. Ich hoffe, das überrumpelt dich nicht zu sehr.«
»Geht schon in Ordnung.« Gabe zog an dem Türgriff ihres alten Volvos.
Sie gingen gemeinsam zur Haustür und ins Haus. Die Schwestern sahen genau gleich aus – beide groß, mit langem, ungebändigtem rotem Haar, einem schmalen Gesicht und einem starken, aber nicht unweiblichen Kinn. Beide hatten mandelförmig geschnittene Augen. Cindys waren braun, die von Hannah blau. Cindy war noch
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