Wollust - Roman
nicht.«
»Ich sag’s dir: Mein Dad ist aus dem Rennen.« Er widmete sich wieder den Tasten, in der Hoffnung, dass seine Lügen – na ja, Halblügen – überzeugend herüberkamen.
Als er klein war – bevor seine Eltern geheiratet hatten –, besuchte Chris sie regelmäßig in Chicago, wo seine Mom Medizin studierte. Er und Chris verbrachten dann einen Tag gemeinsam. Morgens gingen sie in den Park, aßen mittags im Restaurant und kehrten danach in die Wohnung zurück, wo Chris ihn vor dem Klavier platzierte und ihm eine zwei- bis dreistündige Unterrichtsstunde gab. Auch wenn Chris eigentlich kein Pianist war, so überzeugte er als Musiker und konnte an jedem Instrument brillieren.
Er war einer der besten Lehrer, den Gabe je gehabt hatte.
Nach der Hochzeit und dem Umzug nach New York verschlechterte sich die Lage rapide und eskalierte im Chaos. Niemand konnte rund um die Uhr mit diesem Mann zusammenleben.
»Ich red mit deinem Dad«, sagte Gabe. »Und hör auf, dir Sorgen um mich zu machen. Ich kann auf mich selbst aufpassen, das tu ich schon mein ganzes Leben.«
Weitere Chormitglieder trudelten ein.
Gabe stand auf. »Ich helf dir, die Stühle aufzustellen.«
Hannah legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sei mir nicht böse.«
»Ich bin dir nicht böse. Es ist nur…« Er hatte die Kiefer so stark aufeinandergepresst, dass seine Zähne wehtaten. »Manchmal …. kapier ich die ganze Tragweite von allem, und das zieht mich runter wie eine riesige Welle … und dann ist es echt schwierig, oben zu bleiben, weil das Wasser immer wieder kommt und kommt und kommt. Und jedes Mal wenn du auftauchst und nach Luft schnappst, rauscht da wieder eine Riesenwelle ran, mit der du dich herumplagen musst.« Er sah sie direkt an. »In meinem Inneren lauert so viel Wut .« Er bemerkte, dass er ihr Angst machte, und rang sich ein Lächeln ab. »Aber dann ist es vorbei, und mir geht’s gut.«
Sie ließ ihre Hand von seiner Schulter gleiten. »Du musst nicht glücklich sein, Gabe. Was du da gerade durchmachst, ist voll daneben.«
»Ich komm schon klar.«
Sie sah ihn durchdringend an. »Weißt du, genau aus diesem Grund soll man Leute nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen. Du siehst wirklich gut aus und bist enorm talentiert, und alle Mädchen an der Schule nerven mich wegen dir. Und die Jungs fragen mich über dich aus, weil du wie der total coole Aufreißertyp rüberkommst.«
»Ich bin nicht cool.«
»Doch, bist du.«
Mrs. Kents Stimme unterbrach ihre Debatte. »Decker, nach dem Chor haben Sie noch genug Zeit zu flirten. Und jetzt stellen Sie bitte freundlicherweise die Stühle auf.«
»Bin schon dabei.« Sie nahm einen Stapel Klappstühle. An Gabe gewandt sagte sie: »Ich bin keine Frischfleisch jagende Mutti. Ich flirte nicht mit Jüngeren.«
»Ich weiß. Das mag ich ja gerade an dir. Du gehst sehr… irgendwie … schwesterlich mit mir um.«
»Typisch«, seufzte Hannah. »Ich bin jedermanns immerwährende Schwester.«
»So hab ich das nicht gemeint.«
»Ich mache nur Spaß, Gabe.«
»Also, ich find dich wirklich hübsch.«
Hannah grinste. »Du kannst jetzt aufhören.«
»Ich bin sicher, dass alle Jungs für dich schwärmen. Also, ich tu’s jedenfalls.«
»Gräbst du da gerade dein eigenes Grab?«
»Es ist doch so, dass ich momentan eine echte Freundin viel nötiger hab als einen Flirt.«
»Verstanden.« Sie legte ihm wieder eine Hand auf die Schulter. »Nur zu deiner Info: Ich bin schon vergeben. Er heißt Rafi. Wir waren letzten Sommer zusammen im Ferienlager. Er studiert an der Yeshivat HaKotel in Jerusalem, aber er wird an die Shana Bet wechseln, damit wir das nächste Jahr gemeinsam in Israel verbringen können.«
»Ich hab alles verstanden, außer dem letzten Satz.«
»Völlig unerheblich. Es bedeutet einfach nur, dass du kein Glück hast, Whitman, was meine Verfügbarkeit betrifft.«
»Na ja … also gut, wenn’s so ist.«
»Und krieg jetzt bloß keine Depri. Du hast gerade selbst gesagt, du betrachtest mich als eine große Schwester.«
»Das tu ich auch. Und ich krieg keine Depri. Und selbst wenn, wärst du bestimmt nicht der Grund dafür. Ich bin schlecht drauf, weil ich mich in einer beschissenen Lage befinde. Also hör du auf, Besitzansprüche an meine Depression zu stellen.«
»Oh, Verzeihung!«
Sie brachen beide in Gelächter aus.
Mrs. Kent sah wütend zu ihnen herüber. »Vielleicht möchten Sie ja auch den Rest von uns daran teilhaben lassen, was Sie so erheitert, Ms.
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