Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
»Filialleiter«, weil das ein kleiner überschaubarer Bereich ist.
Wer nur oberflächlich auf diese Veränderungen blickte, musste genervt abwinken. Diesen Satz bekam ich in jener Zeit hundertfach zu hören: »Ich arbeite jetzt schon jeden Tag 12 Stunden. Und nun soll ich noch zusätzliche Aufgaben übernehmen? Da komme ich überhaupt nicht mehr heim!«
Es dauerte immer ein Weilchen, bis die Menschen bereit waren, zuzuhören und zu erkennen, dass wir eben nicht nur Quantitäten änderten, sondern auch und vor allem Qualitäten. Meine Standardantwort: »Wer heute 12 Stunden für etwas braucht, kann das vielleicht auch in sechs erledigen und hat dann sechs Stunden für etwas anderes.« Aber wie schafften wir es, dass die Menschen weniger Zeit für ihre Arbeit brauchten?
»Wer soll es machen, wenn nicht ich?«
Das, was uns durch diesen gewaltigen Veränderungsprozess leitete, war diese Grundüberzeugung: Kernaufgabe der Führungskräfte war es, Verhältnisse zu generieren, in denen die Verantwortung dort wahrgenommen wird, wo sie auch erkannt wird. Deswegen war klar: Wenn wir wollen, dass die Filialleiter eigenständiger werden, dann müssen wir sie von der zu engen Betreuung durch die Bezirksleiter befreien. Denn wenn die Betreuung so eng ist, dann kann Eigenverantwortung gar nicht entstehen.
Die Tatsache, dass der neue Gebietsverantwortliche nun gleich 20 – 25 Filialen versorgen musste, sollte deswegen von vorneherein den Übereifer der Vorgesetzten verunmöglichen. Fünf oder sieben Filialen kann man vielleicht noch in einem halbwegs akzeptablen Rhythmus aufsuchen und bevormunden. 20 – 25 Filialen sind hoffnungslos zu viele. Das Thema Verantwortung bekam eine neue Bedeutung. Der Gebietsverantwortliche konnte gar nicht mehr anders, er musste dem Filialleiter jetzt Freiräume lassen. Entscheidungen, die er vorher niemals jemand anderem überlassen hätte, lagen jetzt plötzlich nicht mehr in seiner Verantwortung, sondern in der des Filialleiters. Das reichte bis in das Heiligtum der Mitarbeiterauswahl hinein. Früher hat der Bezirksleiter die Mitarbeiter ausgesucht und eingestellt. Nun entschieden die Filialleiter selbst, mit wem sie in ihrer Filiale arbeiten wollten – und der Gebietsverantwortliche musste den Filialleiter lediglich für die Bewerbungsgespräche fit machen.
Umgekehrt hieß das aber auch, dass der Filialleiter sich nicht zurücklehnen und warten konnte, bis der Chef übermorgen wiederkommt und alle Fragen beantwortet, sondern er musste erkennen: »Wenn ich das Problem nicht löse, dann löst es keiner.«
Natürlich wurde damals sehr geunkt. Ich erinnere mich an eine Diskussion in der Geschäftsleitung, als die Parole »Filialen an die Macht« erstmals ausgerufen wurde. Ich bat die Kollegen, bis zur nächsten Sitzung einmal darüber nachzudenken, wie vielen Filialleitern aus ihrer eigenen Region sie diesen Schritt wirklich zutrauen würden. Drei Wochen später kam dann die eigentlich niederschmetternde Prognose: Pro Region waren es ungefähr 8 – 11 Filialleiter, die nach Ansicht der Geschäftsführer das Potenzial hätten, sich und ihre Filiale selbst zu führen. So mancher hätte an dieser Stelle sofort die Segel gestrichen. Wenn nur so wenige Filialleiter den Herausforderungen des unternehmerischen Handelns gewachsen waren, dann hätte man zuerst neue Filialleiter engagieren müssen. Aber dann haben wir unsere Wahrnehmung kritisch hinterfragt. Woher nahmen wir dieses Urteil? Und schließlich haben wir uns einen Ruck gegeben. Es gab keine Alternative. Wir mussten (und wir wollten) es ausprobieren.
Am Ende war es genau andersherum: Nur einige wenige Filialleiter haben die Herausforderungen nicht bewältigt und übernahmen andere Aufgaben. Alle anderen wuchsen über sich – und vor allem über unsere negativen Vorurteile – hinaus.
Die Umstellung war für die meisten eine harte Zeit. Viele hatten zunächst große Angst vor der neuen Rolle und Verantwortung. Plötzlich sollten sie selbst entscheiden, was getan werden muss. Aber sehr schnell erlebten sie die Veränderung als Befreiung, schon allein weil das lästige Hin und Her der Anweisungen von verschiedenen Führungskräften wegfiel. Sie konnten schneller und ohne lange Rücksprache zu halten reagieren, wenn ihnen ein Problem auf- und eine Lösung einfiel. Aber auch hier haben nur einige wenige das Handtuch geworfen. Für viele war die größte Herausforderung, sich selbst zu organisieren, das eigene Leben mehr in die Hand zu nehmen.
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