Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
uns plötzlich die Frage stellen ließ, wozu überhaupt wir bei dm eine »Zentrale« brauchen. Was genau tut eine Zentrale? Und ist sie überhaupt zentral?
Es dauerte nicht lange, da kam der Begriff »Zentrale« bei dm auf den Index. Genauso wie wir den »Bezirks leiter « und den »Gebietsverkaufs leiter « abgeschafft hatten, schafften wir auch die Zentrale ab. Sicher, das Gebäude in der Carl-Metz-Straße blieb bestehen. Aber es wehte darin ein neuer Geist. Und dafür brauchten wir neue, treffende Begriffe.
Die Rede war fortan von »rückwärtigen Dienstleistungen«. Ich gebe zu, das war etwas sperriger, aber das traf den Nagel auf den Kopf. Denn es änderte zunächst die Blickrichtung: vorne die Filiale, hinten rückwärtige Dienstleistung. Das »Oben-unten-Denken« war damit passé. Vorne, hinten hieß die Alternative: Vorne ist da, wo der Kunde ist; und hinten werden Dienstleistungen erbracht, die vorne gebraucht werden. Die rückwärtigen Dienste müssen ständig überlegen, was sie tun können, um die Filialen noch mehr darin zu unterstützen, sich ganz auf den Kunden zu konzentrieren.
Diese Veränderung war eine Revolution:
Sie musste gelingen
Diese Reorganisation war ein langwieriger Prozess. Jeder einzelne Mitarbeiter musste dafür gewonnen und begeistert werden. Den gedanklichen Auslöser hatte der Zeitungsartikel geliefert, der aufgrund unserer langjährigen Denkarbeit zu Führungsfragen auf fruchtbaren Boden gefallen war. Es dauerte eine Weile, bis wir in der Geschäftsleitungskonferenz einig darüber waren, dass dies der richtige Weg sein würde. Dann mussten wir nach und nach den Gedanken ins Unternehmen tragen.
Denn es steckte auch ein Risiko in dem Unterfangen. Schließlich hatte dm fast zwei Jahrzehnte lang so funktioniert, dass die Filialen regelmäßig besucht worden sind. Was passiert an dem Morgen, an dem zum ersten Mal niemand kommt? Mancher entwickelte da geradezu Horrorvorstellungen. Wir durften nicht zu überstürzt vorgehen. Was, wenn es unerwartete Schwierigkeiten gibt? Bekanntlich sind es immer die guten Mitarbeiter, die ein Unternehmen in Krisenzeiten als erste verlassen, weil ihnen schneller auffällt, wenn irgendetwas im Argen liegt, und weil es ihnen leicht fällt, andernorts einen neuen Job zu finden. Gerade die brauchten wir aber in solch einer fundamentalen Umstellung. Wir haben deswegen alle Sorgen und Überlegungen mehr als einmal durchgekaut. Und alle beteiligt, die sich beteiligen wollten. Diese Veränderung sollte eine Revolution werden; sie musste gelingen.
Irgendwann hatten wir den Eindruck, der Ansatz hätte im Unternehmen genügend Bekanntheit und Akzeptanz. Es wurde Zeit, dem Plan Taten folgen zu lassen. Wir beschlossen, alle Bezirksleiter, alle Gebietsverkaufsleiter und die gesamte Geschäftsleitung zusammenzurufen und in einer konzertierten Aktion alle Details zu besprechen, letzte Fragen und Wünsche aufzugreifen und dann die Umsetzung miteinander zu verabreden. Das ist in die Firmengeschichte unter dem Schlagwort »Bingen« eingegangen, weil wir diese Veranstaltung, auf der wir die Regionalisierung bei dm implementierten, in Bingen gemacht haben. Das verlief überwiegend positiv, aber ich erinnere mich auch an zwei Gebietsleiter, die stante pede sagten: »Nein, das machen wir nicht mit. Wir gehen woandershin.«
Ansonsten war die dreitägige Mitarbeiterversammlung ein Erfolg, und wir gaben den Startschuss zur sorgfältig vorbereiteten Veränderung. Wenige Wochen später war formal jeder auf seinem neuen Posten. Aber der damit verbundene mentale Wandel war nicht so schnell vollzogen. Immer wieder gerieten zum Beispiel die Mitarbeiter der »Rückwärtigen Dienste« in den alten Habitus der »Zentrale«. Doch es entwickelte sich schnell ein Mechanismus der sozialen Kontrolle, dass wir uns wechselseitig darauf aufmerksam machten, wenn sich Einzelne im Ton gegenüber den Filialleitern zu vergreifen drohten. Auf diese Weise gelang es, dieses sonst so typische Gefälle zwischen Zentrale und Filiale immer weiter abzubauen.
Auch die Filialleiter mussten viel dazulernen, um den neuen Aufgaben gewachsen zu sein. Einerseits waren sie glücklich, dass sie in ihrer Arbeit wertgeschätzt wurden, und wie erlöst von der Knute der Reglementierung. Andererseits gab es auch Ängste und Vorbehalte. Auch hier kam es zu »Rückfällen« in alte Verhaltensmuster, und es brauchte viel gemeinsame Reflexion, um das gewohnte Obrigkeitsdenken und Verhalten aufzugeben und die neue
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