Wood, Barbara
Seite zur anderen. Die Stille war ihm
unheimlich. Er war daran gewöhnt, nachts menschliche Laute zu hören -
Schnarchen, Stöhnen, Husten -, auch die Geräusche des Beischlafs, die ihm
anfangs unangenehm, dann aber so selbstverständlich geworden waren wie der
Schrei eines Babys. Irgendwann glitt er hinüber in einen von Träumen
durchzogenen Schlaf. Hannah tauchte auf, in kurzen Sequenzen, die er vergeblich
zu erhaschen suchte. Er träumte, der Clan wäre seinetwegen zurückgekommen, und
er wäre darüber unendlich erleichtert. Auch eine kurze Szene tauchte im Traum
auf: Neal, der Sir Reginald des Mordes beschuldigte.
Die
Sonnenstrahlen, die durch die Zweige des Mulgabaums schienen, kitzelten ihn
wach. Er trank aus dem artesischen Brunnen, hätte, als er endlich aufbrach,
gern einen ausreichend großen Vorrat an Wasser mitgenommen, aber andererseits
wusste er ja inzwischen, wo man in dieser scheinbar knochentrockenen Ebene
Wasser fand. Kängurus beispielsweise scharrten sich eigene Wasserlöcher, die
drei oder vier Fuß tief sein konnten. Übermäßig viele Kängurus gab es in
dieser Gegend zwar nicht, aber immerhin einige, und Jallara hatte Neal gezeigt,
wie man diesen »Kängurubrunnen« auf die Spur kam. Für Nahrung konnte er nach
Art des Clans sorgen, nach Wurzeln und Samen suchen oder mit dem Speer ein Tier
erlegen. Wenn er Glück hatte, fand er Eier von Emus, die eine grüne Schale
hatten und zehnmal größer als ein Hühnerei waren.
Er wandte
das Gesicht dem heißen Wind zu. Nach dem ersten Schritt aus dem Lager hielt er
inne.
Er spürte
ihn hinter sich, spürte seine Hitze und seine geheimnisvollen Vibrationen.
Der Berg.
Als er zu
dem Monolithen schaute, der in der Morgensonne golden leuchtete, gestand er
sich endlich ein, dass seine Entscheidung, sich der Initiation zu unterziehen,
nichts mit wissenschaftlicher Neugier zu tun hatte und auch nichts mit dem
Wunsch, einen Artikel über diese Prozedur zu schreiben. Es war ein Vorwand, um
allein zu sein und Klarheit über den Berg zu gewinnen, der ihn so beständig
lockte.
Tabu oder
nicht, er musste das Geheimnis des roten Berges ergründen.
29
Bis in den
Nachmittag hinein bewegte sich Neal wie unter Zwang vorwärts, seine Füße
stapften wie von einer höheren Macht angetrieben durch den Sand, immer näher
auf den Monolithen zu, der sich von golden zu rot gefärbt hatte. Dennoch wollte
er nicht glauben, dass da übernatürliche Kräfte im Spiel waren.
Wissenschaftliche
Neugier, das ist der Grund, sagte er sich, als er am Fuße des Felsmassivs
anlangte, und musterte zur Bestätigung seiner These mit analytischem Blick das
nackte Gestein, hielt, was er sah, in Gedanken fest: besteht aus grobkörnigem
Sandstein, der reich an Quarz und Feldspat ist. Entstehung vertikaler
Gesteinsschichten infolge Anhebung und Aufwerfung. Oberfläche erodiert. Oxidation eisenhaltiger Mineralien und Verwitterung haben rostige Färbung der
Oberfläche bewirkt.
Er wollte
das Gestein berühren, schreckte dann aber davor zurück. Auch wenn er sich
sagte, ich habe einen Universitätsabschluss in Geologie, ich bin
Wissenschaftler, verharrte er wie angewurzelt am Fuße des hoch aufragenden
Berges und spürte die Kraft des roten Felsens, der in der Sonne leuchtete. War
der Berg irgendwie magnetisch?
Nein,
überlegte er und merkte, wie etwas in ihm vor Kräften kapitulierte, die ihm
überlegen waren. Magnetismus ist das nicht. Weder unterirdische Strömungen noch
seismischer Einfluss, nichts geologisch zu Begründendes, nichts Physikalisches.
Und dann
ging ihm ein Licht auf: Irgendwann in den letzten Tagen hatte er sich, ohne es
selbst zu merken, vom objektiven Wissenschaftler zu einem nach Spiritualität
Suchenden gewandelt, der sich nach einer Nachricht aus der unsichtbaren Welt
sehnte.
Und wenn
die Geister mir nun tatsächlich eine geheime Botschaft zukommen ließen, wie
würde sie lauten?
Obwohl er
versprochen hatte, die Gesetze und Tabus von Jallaras Volk zu respektieren,
vernahm sein Herz den Ruf der Geister im Inneren des Bergs. Abermals wie von
einem Willen getrieben, der nicht seiner war, setzten sich seine Beine in
Bewegung, tasteten sich über den sandigen Grund des glatten Felsens wie
jemand, der eine Tür sucht. Er schritt über Kiesel und Schotter, über Geröll,
das seit Tausenden von Jahren von oben herabgeschwemmt worden war, und folgte
ungeachtet der blendenden Sonne und der erbarmungslosen Hitze dem zerklüfteten
Antlitz des Monolithen. Weil er so
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