Wood, Barbara
Brandung gewesen, ein Mann, der alles wusste,
über allem stand und niemals die Beherrschung verlor! Neal hatte ihn nie auf
diesen Zwischenfall angesprochen, weshalb Josiah nie erfahren hatte, dass der
Junge Zeuge dieses Moments seiner Schwäche geworden war. Und Neal hatte nicht
weiter darüber nachgedacht.
Bis jetzt.
Merkwürdig, dass primitive Strichmännchen auf einer steinernen Wand die
Erinnerung daran wieder aufleben ließen. Was steckte dahinter?
Mit einem
Kloß im Hals ging Neal zwischen den zwei Felswänden weiter. Die Sonne brannte
nicht länger auf ihn nieder, strahlte aber weiterhin auf Gestalten, die nach
und nach unwirklich erschienen. Als er die Hand an die Wand legte, war ihm,
als spüre er, wie der Berg vibrierte.
Die Luft
wurde stickig, Neal vernahm ein Summen. Die steinerne Wand schien kein Ende zu
nehmen. Die Zeichnungen wurden primitiver, schwerer zu deuten. Die
witterungsbedingte Erosion deutete darauf hin, dass diese Zeichnungen sehr alt,
vielleicht Tausende von Jahren alt waren. Es war eine Reise in die Vergangenheit.
Jallara
hatte ihm von ihren Ahnen erzählt, den Erstlingen, die von der
Regenbogenschlange abstammten, und dabei zum Himmel gedeutet. Die Äonen alten
Zeichnungen überwältigten ihn. Die dargestellten Figuren wurden immer
menschenunähnlicher, bis sie schließlich riesige Ausmaße annahmen, ihr Kopf mit
einer durchsichtigen runden Schale bedeckt zu sein schien und sie den Eindruck
erweckten, als stiegen sie vom Himmel herab. Am äußersten Ende der Wand sah
man Sterne und etwas, das wie Flammen aussah. Was waren das für Wesen? Jallara hatte sie Schöpfer genannt.
Er spürte,
wie sich um ihn herum die Luft bewegte, so als würde ihr Druck abwechselnd
fallen und wieder steigen.
Und dann,
so unglaublich es ihm dünkte, fingen die Gestalten an der Wand an, sich zu bewegen.
Neal stieß
einen Schrei aus und prallte zurück. Den Mund vor Schreck verzerrt, sah er
spindeldürre schwarze Arme und Beine über die Oberfläche des Felsens krabbeln,
sich wie eindimensionale Wesen strecken und atmen und körperliche Gestalt
annehmen und schattenspielartig hin und her huschen. Und dann streckten sich
urplötzlich Arme aus, packten ihn und zogen ihn in die Wand hinein.
Er konnte
nicht mehr atmen. Wurde in den Stein gedrückt. Schwarze Gestalten mit Armen und
Beinen wie Stöcke tanzten um ihn herum. Flammen senkten sich vom Himmel herab.
Unwahrscheinlich große Männer, die Köpfe in gläsernen Kugeln, kamen auf ihn
zu. Neal meinte abermals aufzuschreien, aber kein Laut entrang sich seiner
Kehle. Er steckte unbeweglich im Fels fest, während um ihn herum die Tiere zum
Leben erwachten, Kängurus mit unförmigen Körpern und Habichte, die mit
ausgefahrenen Krallen nach unten stießen. Überall in der roten Atmosphäre, die
ihn zu ersticken drohte, sah er furchterregende Kreaturen in den
Gesteinsschichten schwimmen. Langfingrige Hände, die nach ihm griffen.
Er rannte
los. Mit schwerfälligen Beinen, wie im Traum. Er spürte, wie Hände ihn
zurückhielten, kämpfte sich den Weg frei. Nur weg von diesem Felsen.
Hilfe!,
schrie es in ihm. So helf mir doch jemand!
Und dann
sah er in dem dichten Sediment und Felsgestein, das ihn gefangen hielt, ein
zusehends heller werdendes Licht auf sich zukommen. Bei ihm angelangt, ballte
sich das Licht zu einer Frauengestalt - keine pechschwarze Strichzeichnung,
sondern eine Frau aus Fleisch und Blut mit wehendem blonden Haar und heller
Haut, in einem weißen fließenden Gewand. Sie lächelte ihm zu, neigte sich zu
ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als gleich darauf die dunklen Gestalten in
den Fels zurücksanken, bedeckte die Frau ihr Gesicht mit beiden Händen, und als
sie sie wieder wegzog, waren sie voller Diamanten, die sie auf Neals Wangen
rieseln ließ. Wie feine Nadelstiche, prickelnd vor Lebendigkeit und Überschwang
fühlten sich diese Edelsteine auf seiner Haut an.
Gleich darauf
umfing ihn die kühle Nachtluft. Neal schnappte nach Luft, sog sie keuchend ein
wie jemand, der dem Tod durch Ertrinken entgangen ist. Er wusste nicht, wo er
war, konnte nichts erkennen. Und dann sah er Jallara, die auf ihn
hinunterschaute.
Er
blinzelte. Sie kniete neben ihm, hielt das smaragdgrüne Tränenfläschchen in der
Hand. Sie hatte das Siegel erbrochen und tropfte die Tränen seiner Mutter auf
sein Gesicht.
Zitternd
und um Atem ringend setzte er sich auf, stützte sich auf einen Ellbogen,
stellte nach einem Blick um sich herum fest, dass er sich nicht
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