Wood, Barbara
Bühnenausgang auf sie
zu warten (weshalb sie nie ohne mindestens drei Begleiter ausging). Alice war
ferner daran gewöhnt, großzügige Geschenke und Blumen zu erhalten, aber dann
gab sich der Absender jedes Mal zu erkennen. Vor einer Woche war ihr ein
Päckchen in die Garderobe geschickt worden, ohne Visitenkarte des Verehrers:
Das Aquarell eines hiesigen Künstlers, schwarze Schwäne auf dem Yarra-Fluss.
Aber erst als Alice den kunstvoll geschnitzten Holzrahmen sah - winzige Vögel
und Schmetterlinge - dämmerte ihr, dass nicht das Bild das Geschenk war,
sondern der Rahmen. Und sie hatte sich gefragt, ob dieses Geschenk von dem
geheimnisvollen Mann stammte, der immer dahinten im Dunklen saß.
»Vielleicht
ist er ja heute Abend anwesend!«, sagte Alice unvermittelt. »Diese schönen
Rahmen sind ebensolche Kunstwerke wie die Fotografien. Es wäre doch nur
logisch, wenn der, der sie geschnitzt hat, auch hier wäre, findest du nicht?«
Hannah
bemerkte, dass die Augen der Freundin ganz eigentümlich glitzerten. An
Bewunderern fehlte es Alice durchaus nicht, aber alles, was darüber hinausging,
lehnte sie ab. Wie sie Hannah anvertraut hatte, verliebten sich Männer nicht in
sie, sondern in ihre Fassade, und sie wisse, dass ihr Traum wie eine
Seifenblase zerplatzen und sie gedemütigt zurückbleiben würde, sobald sie sich
abgeschminkt hätte, das Haarteil und das Diadem entfernt wären. Dennoch schien
es mit diesem einen Bewunderer etwas Besonderes auf sich zu haben. Warum gab er
sich nicht zu erkennen? Warum kam er zu jeder Vorstellung und wagte doch nicht,
sie anzusprechen? Auch wenn es nur eine Schwärmerei sein mochte, merkte Hannah,
dass Alice von diesem Mann fasziniert war.
»Miss
Star.« Seide und Unterröcke raschelten, als Blanche mit erhitzten Wangen, das
spitz zulaufende Kinn erregt gereckt, auf sie zutrat. »Wir sind bereit für
Sie.«
Alice
zögerte. Sie berührte Hannahs Arm und
fragte leise: »Alles in Ordnung? Oder wäre es dir lieber, wenn ich bei dir
bliebe?« Erst als Hannah ihr versicherte, sie brauche sich keine Sorgen um sie
zu machen, nahm Alice ihren Platz in der Mitte der Eingangshalle unter einem
der Kronleuchter ein und wartete in anmutiger Haltung ab, dass die Gespräche
verstummten. Als es so still war, dass man nur noch das gelegentliche
Aufzischen einer Öllampe vernehmen konnte, räusperte sich Alice, faltete die
Hände in Höhe ihrer Taille, atmete tief durch und hob an zu singen.
I dreamt I dwelt in marble halls
With vassals and serfs at my side,
And of all who assembled within those walls
That I was the hope and the pride.
I had riches all too great to count
And a high ancestral name.
Mir träumte, ich lebte in marmornen Sälen
Mit Vasallen und Dienern zur Seite,
Und dass von allen versammelt in jenen Mauern
Ich der war, der stand für Hoffnung und Stolz.
Ich besaß Reichtümer ohne Zahl
Und von hoher Abstammung den Namen.
Im Nu
hatte sie die Zuhörer mit ihrem Lied aus »Das Zigeunermädchen« für sich
gewonnen. Ohne musikalische Begleitung, nur mit ihrem engelsgleichen Äußeren
und ihrer goldenen Stimme, zog Alice Star, einstmals Alice Starky, die früher
in einem Bordell in Adelaide Fußböden gewischt hatte, die Gäste so sehr in
Bann, dass es schien, als singe sie vor steinernen Statuen. Und derart hell und
klar perlten die Töne von ihren Lippen, dass keiner außer Hannah ahnen konnte,
was Alice bedrückte: trotz ihrer rauschenden Erfolge und obwohl sie in einem
schönen Haus wohnte und ihr Diener und eine Kutsche zur Verfügung standen, war
sie sehr einsam.
Während
Hannah ihr lauschte und von neuem darüber staunte, wie leicht es der Freundin
fiel, ihr Publikum zu verzaubern, bemerkte sie, wie sich hinter Alice die
Drehtür bewegte und zwei Personen, ein Mann und eine Frau in Operncape und
Umhang, Zylinder und Haube eintraten. Sie blieben stehen und warteten höflich
hab, bis Alice ihren Gesangsvortrag beendet hatte.
Die Frau,
die jung und schlank war und unter ihrem Umhang ein smaragdgrünes Abendkleid
trug, behielt den Blick auf Alice gerichtet; der Mann dagegen, der seinen
Zylinder noch nicht abgenommen hatte, sah sich im Saal um, blieb schließlich
an Hannah hängen.
Um ein
Haar hätte sie aufgeschrien. Am liebsten wäre sie auf ihn zugestürzt, hätte
sich ihm in die Arme geworfen und gejubelt, dass er am Leben war. Aber noch
sang Alice, noch musste Hannah dort, wo sie stand, verharren, während sich
Neal nicht von der Eingangstür weg
Weitere Kostenlose Bücher