Wood, Barbara
Präsidentin der Wohlfahrtsgesellschaft von Melbourne, die sich aus mehr
als vierzig wohlhabenden wie hochrangigen Damen zusammensetzte; die meisten
von ihnen hatten Familien. Blanche hatte noch nie darüber nachgedacht, aber
jetzt fiel ihr auf, dass die jeweiligen Ehemänner nichts gegen das wohltätige
Engagement ihrer Ehefrauen einzuwenden hatten, solange im Haushalt alles rund
lief und die Kinder versorgt waren. Und keine der Frauen wurde für ihren
Einsatz bezahlt. Es schien so zu sein, dass es den Ehefrauen gestattet war,
unentgeltlich zu arbeiten, Geld zu verdienen jedoch als unter ihrer Würde
erachtet wurde.
Wie sie
Hannah beneidete, die nicht nur eine gutgehende Praxis unterhielt, sondern
auch ein Buch veröffentlicht hatte, einen Sammelband mit Geschichten, die sie
von einem gewissen Janie O'Brien geschenkt bekommen hatte. Sie hatte sie unter
dem Titel Dieses goldene Land: wahre sowie
überlieferte Geschichten aus unserem südlichen Land publiziert
- einen Band voller menschlicher und tragischer Episoden über Viehtreiber und
Schafhirten und Aborigines. Und jetzt plante Hannah ein weiteres Buch, einen
medizinischen Leitfaden für die Menschen auf dem Lande, die nur selten einen
Arzt zu Gesicht bekamen.
Wie es
wohl war, wenn man sich seiner Berufung bewusst wurde? Wie fand eine Frau die
auf sie zugeschnittene Nische?
Unversehens
fiel ihr wieder ihre Angst vor Krankenhäusern ein, und zum ersten Mal wertete
sie diese Phobie nicht nur als Hemmschuh, um ihre Beziehung zu Marcus Iverson
zu kitten, sondern fragte sich, ob diese panische Angst nicht sogar
ausschlaggebend für ihr Unvermögen war, ihre wahre Berufung zu finden.
Von dieser
unerwarteten Erkenntnis überwältigt, verharrte sie, die Hände untätig auf den
Taschentüchern, am Sortiertisch und starrte vor sich hin. Hannah und Alice,
beide hatten sie persönliche Hürden überwinden, Ängsten und Herausforderungen
die Stirn bieten müssen, um das zu erreichen, was sie heute waren. War es das, was
Blanche tun musste? Ihren Ängsten die Stirn bieten?
Der
Gedanke elektrisierte sie. Möglicherweise gab es ja doch noch eine Lösung! Und
vielleicht führte sie sogar dazu, ihre Freundschaft mit Marcus Iverson zu
erneuern. Angestrengt dachte sie nach. Wie sollte sie dabei vorgehen? Ihren
Ängsten die Stirn zu bieten war eine Sache. Sie zu besiegen eine völlig andere.
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Neals
neues Atelier gehörte zu einem aus Blaustein errichteten Gebäudetrakt, der im
vergangenen Jahr hochgezogen worden war, und bestand aus dem Laden an der
Vorderseite und dem daran angrenzenden Atelier - wegen seines durchsichtigen
Dachs, durch das Sonnenlicht einfiel, »Glashaus« genannt - sowie einer
rückwärtigen Dunkelkammer. Neal hatte erwähnt, seinen Privatbereich im
Stockwerk darüber eingerichtet zu haben.
Der
Nachmittag war sonnig und warm, auf der Straße zogen Kutschen und Pferde dahin.
Hannah blieb auf dem mit Planken belegten Gehweg stehen und las die in goldenen
Buchstaben abgefasste Beschriftung über dem Schaufenster: Neal Scott - Fotografisches Atelier. Ein
kleineres Schild darunter besagte: »Jetzt! Durch ein bahnbrechend neues
Verfahren zeitlich verkürzte Sitzungen! Ideal für kleine und größere Kinder
sowie bei Schüttellähmung! Anstatt der sonst üblichen zwölf Minuten beträgt
die Belichtungszeit bei uns lediglich fünfzehn Sekunden. Ihrem lächelnden
Porträt steht somit nichts mehr im Wege.«
Mit wie
rasend klopfendem Herzen betrat Hannah den Laden, der geschmackvoll mit
Fotografien von Frauen in weiten Reifröcken, von Männern in steifer Pose,
angetan mit Gehrock und Zylinder, von ernst dreinschauenden Kindern dekoriert
war. Viele präsentierten sich in einem ebenso kunstvoll geschnitzten Rahmen
wie die Ausstellungsstücke gestern Abend auf der Gala.
Nach ihrem
Einsatz im Gemeindehaus der Quäker war Hannah nach Hause gefahren (wo sie eine
Nachricht von Alice vorfand, in der die Freundin ihr überschwänglich mitteilte,
dass Fintan Rorke tatsächlich der heimliche Verehrer sei), hatte ein Bad
genommen und sich umgezogen, um dann zu einem kurzen Besuch bei einer Patientin
aufzubrechen, die im achten Monat schwanger war. Und jetzt stand sie mit
gemischten Gefühlen in Neals Laden, einesteils völlig verunsichert und
verstört, andererseits erfüllt von Sehnsucht und Verlangen. Freudig und traurig
zugleich. Sie war begierig darauf, alles zu erfahren, was er seit dem Abschied
vor dem Australia Hotel
erlebt hatte, wusste aber auch, dass ihr
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