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so schwer, wie es klingt. Ich habe Geld versteckt. Wir können eine neue Identität annehmen. Sind die Pässe bei dir angekommen?«
»Ja.«
»Wir können nach Europa ziehen. Ich kenne Leute in Berlin und in der Schweiz. Wir können dort ein gutes Leben führen. Das kannst du mir glauben. Natürlich wird es nicht leicht sein. Deine Eltern zum Beispiel. Es wird problematisch, sie zu treffen. Sie müssen zu uns kommen. Aber das lässt sich alles machen.«
Obwohl er sehr langsam gesprochen hatte, wollte Tina ihren Ohren nicht trauen. Noch vor einer Stunde hatte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen können als die Nachricht, dass Milo verletzt war. Sie wäre fast zusammengebrochen bei diesem Gedanken. Und jetzt eröffnete er ihr, dass sie als Familie vom Erdboden verschwinden sollten. Hatte sie wirklich richtig gehört? Ja, sie hatte ihn genau verstanden - sie sah es an seinem Gesicht. Die Antwort platzte aus ihr heraus, noch bevor ihr Gehirn die Chance hatte, sich damit zu befassen: »Nein, Milo.«
43
Vor einer halben Stunde, bei Sweetwater, hatte er zu weinen angefangen. Auf den ersten Stunden der Fahrt hatte es noch keine Tränen gegeben, nur rot geränderte, brennende Augen. Er wusste nicht, was sie schließlich zum fließen brachte. Vielleicht das Werbeplakat, auf dem ihm eine Familie aus dem Mittleren Westen entgegenlächelte: glücklich lebensversichert.
Während vor ihm die Sonne aufging und über der flachen, kargen westtexanischen Landschaft zu einer Flamme wurde, wunderte er sich vor allem darüber, wie unvorbereitet ihn das alles getroffen hatte. Touristen überleben, weil sie unerwartete Eventualitäten einkalkulieren und sich darauf einstellen. Vielleicht bedeutete diese Fehleinschätzung, dass er nie ein besonders fähiger Tourist gewesen war, weil er nie die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, dass seine Frau sich weigern könnte, mit ihm unterzutauchen.
Ihre Rechtfertigungen hallten noch immer in ihm nach.
Zunächst hatten sie nichts mit ihr zu tun, sondern drehten sich nur um Stephanie. Du kannst einer Sechsjährigen nicht einfach sagen, dass sie jetzt anders heißt und alle Freunde verliert, Milo ! Er hatte sich die Frage verkniffen, die er hätte stellen sollen: Ob es nicht schlimmer war, wenn ihr Dad verschwand. Er hatte sie nicht gestellt, weil er die Antwort fürchtete: Sie hat ja immer noch Patrick, oder?
Dann hatte sie schließlich doch zugegeben, dass es auch was mit ihr zu tun hatte. Was soll ich denn in Europa? Ich kann doch nicht mal richtig Spanisch!
Sie liebte ihn, ja. Als sie erkannte, in welche Verzweiflung ihn ihre Weigerung stürzte, nahm sie immer wieder sein Gesicht in die Hände, küsste ihn auf die erhitzten Wangen und beteuerte ihre Liebe. Das stand überhaupt nicht zur Diskussion, wie sie behauptete, das war keine Frage. Sie liebte Milo von ganzem Herzen, doch das bedeutete nicht, dass sie das Leben ihrer Tochter ruinierte, um ihm kreuz und quer durch die Welt zu folgen, immer mit der Angst vor einem Killer im Nacken. Was wäre das denn für ein Leben, Milo? Du musst das auch aus unserer Warte sehen.
Aber das hatte er doch getan. Er hatte sich vorgestellt, wie sie zusammen mit Stephanie ihren abgebrochenen Urlaub im Pariser Disneyland beendeten, wie sie lachend in Süßigkeiten schwelgten, ohne Störungen durch das Handy befürchten zu müssen. Der einzige Unterschied waren die neuen Namen: Lionel, Laura und Kelley.
Jetzt wusste er, warum ihn die Tränen doch noch eingeholt hatten. Es war die schlichte Einsicht, dass sie Recht hatte. Graingers Tod hatte ihn erschüttert, hatte einen verzweifelten Träumer aus ihm gemacht, der sich in die sanfte Disney-Welt flüchten wollte.
So sehr war er in seine Fantasien verliebt gewesen, dass er nicht erkannt hatte, wie kindisch sie waren.
Und wo war er jetzt? In der Wüste. Sie erstreckte sich nach allen Richtungen, flach, monoton, leer. Seine Familie hatte sich in Luft aufgelöst, und seinen einzigen echten Freund in der Company hatte er mit seiner Dummheit umgebracht. Jetzt gab es in der ganzen Welt nur noch einen Verbündeten für ihn, jemanden, den er nie hatte um Hilfe bitten wollen und dessen Anrufe er immer gefürchtet hatte.
Kurz nach der Grenze zu New Mexico hielt er in Hobbs an einer typischen Ladentankstelle mit abblätternden weißen Wänden und ohne Klimaanlage. Die fette, schwitzende Frau hinter dem Tresen gab ihm Vierteldollarmünzen und dirigierte ihn zu einem Telefon im hinteren Teil des Ladens, neben den
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