Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Barock bis Klassik
Heiligtum zugleich. Obwohl Tieck nur wenig daran geschrieben hat, teilte er doch ganz diese für die deutsche Romantik charakteristische Auffassung der Verschmelzung von Kunst und Religion. Und durch die Arbeit mit Wackenroder verwirklichte er ein weiteres Charakteristikum jener Zeit, den Freundschaftskult. Als Wackenroder 1798 starb, veröffentlichte Tieck aus dessen Nachlass die »Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst« (1799), ergänzt durch eigene Beiträge, sodass sich auch hier oft nicht feststellen lässt, wer der Urheber der einzelnen Aufsätze war.
KINDHEIT IM PSYCHISCHEN GRENZBEREICH
Biografien über Tieck werden oft mit zwei Kindheitserfahrungen eingeleitet. Er neigte schon früh zu Halluzinationen, was ihm psychische Grenzbereiche von Anfang an zur vertrauten Erfahrung machte und zugleich seine charakterliche Labilität bedingte. Die hypersensible Erlebnisfähigkeit gipfelte 1792 in einer Horrorvision nach der Lektüre von Karl Grosses Roman »Der Genius« und einen Monat darauf in einem überwältigenden Gotteserlebnis während eines Sonnenaufgangs. Schon dem Kind, erst recht aber dem jugendlichen Dichter, wurde es zur Hauptaufgabe, ständig um Seelenbalance zu ringen.
Am 31. Mai 1773 wurde Johann Ludwig Tieck als ältester Sohn eines Seilermeisters in Berlin geboren. Die Mutter Anna Sophie nimmt in der Familienüberlieferung gegenüber ihrem dominanten Mann eine untergeordnete Rolle ein. Der Vater machte Tieck mit der im protestantischen Bürgertum üblichen Lektüre, der Bibel und moralischen Wochenschriften, sowie darüber hinaus mit zeitgenössischer Literatur bekannt. Die beiden jüngeren Geschwister, Sophie und Christian Friedrich, waren ebenfalls künstlerisch orientiert. Die Schwester verfasste Märchen und romantische Erzählungen, der Bruder trat als klassizistischer Bildhauer hervor – von ihm stammen nicht weniger als 24 Büsten im bayerischen Ruhmestempel der Walhalla bei Regensburg.
Durch seinen Vater lernte Tieck Werke von Dichtern wie Goethe und Friedrich Schiller, aber auch von William Shakespeare sowie den »Don Quijote« des Spaniers Miguel de Cervantes Saavedra, kennen, die er in sich einsog und die seine überbordende Fantasie stimulierten. 1782 kam Ludwig auf das von der Aufklärung geprägte Friedrichwerdersche Gymnasium in Berlin, wo seine zunächst noch ungeordneten literarischen Eindrücke kanalisiert wurden. Zudem versuchte sich Tieck erstmals selbst im künstlerischen Schreiben – unter anderem beeinflusst durch seinen Lehrer Friedrich Eberhard Rambach, einen damals namhaften Trivialautor von »Genie- und Schauerromanen«, für den Tieck einige Erzählungen verfasste.
DIE STUDIENZEIT
In den letzten Schuljahren schloss Tieck zahlreiche Bekanntschaften, etwa mit dem Komponisten und Musikschriftsteller Johann Friedrich Reichardt, der ihn zu einer Theaterlaufbahn überreden wollte. Der junge Ludwig, der mit großem Interesse das Theaterleben in Berlin verfolgte, verfügte selbst über ein ausgeprägtes Schauspieler- und Improvisationstalent. Ihm gelang es später, als einem der wenigen unter den Romantikern, aufführbare Stücke zu schreiben, zum Teil mit überraschenden, fast surrealen Einfällen. Das kleine Lustspiel »Ein Prolog« (1796) handelt beispielsweise von verfrüht eingetroffenen Zuschauern auf einer Theaterparterre; erst im Verlauf des Stücks kristallisiert sich heraus, dass sich das eigentliche Publikum bereits mit der Handlung konfrontiert sieht, die nicht auf der Bühne, sondern vor dem geschlossenen Vorhang abläuft und bereits nach dem Prolog endet. In seinen brillanten literarischen Komödien, etwa in »Der gestiefelte Kater« (1797), lässt Tieck im Publikum postierte Akteure glossierend eingreifen und macht sich über ihren schlechten Geschmack lustig. Theater im Theater kennzeichnet auch das Märchenspiel »Prinz Zerbino, oder Die Reise nach dem guten Geschmack« (1799): Zerbino dreht, der Rolle überdrüssig, einmal sogar die Zeit zurück, um den Handlungsablauf zu verändern!
Die Theaterleidenschaft führte zu einer schweren Krise zwischen Tieck und seinem Vater, der ihm die finanzielle Unterstützung zu entziehen drohte, sollte er dieser Passion weiter frönen. 1792 schrieb sich Tieck als Theologiestudent an der Universität in Halle an der Saale ein und vergrub sich, um den Wünschen seines Vaters gerecht zu werden, in sein Studium, erst in Halle, dann in Göttingen und schließlich Erlangen. Dort traf er den gleichaltrigen
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