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Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus

Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus

Titel: Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brockhaus
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die ersten sicher bezeugten Anfälle von Epilepsie. Im Zuchthaus erfährt er eine Wandlung, die er später in dem Roman »Schuld und Sühne« seinen Helden Raskolnikow erleben lässt. Er beschreibt sie mit den Worten: »An die Stelle der Dialektik war das Leben getreten.«
    Die »Dialektik« hatte in den Debattierklubs und revolutionären Zirkeln Sankt Petersburgs geherrscht, in denen dem Verstand ein überragender Stellenwert eingeräumt wurde. Dieser Verstand hatte die bestehende Ordnung des Staates, des Volkes, der Familie leichtsinnig »zum Tode verurteilt«, soziale Programme entwickelt und beschlossen, sie um jeden Preis durchzusetzen. Auf dem Schafott hatte Dostojewskij in einzigartiger Schärfe erlebt, dass nicht der Verstand allein über die Frage nach Sinn und Wert des Lebens entscheidet, sondern dass das Herz ein tieferes, sehr wahres Urteil darüber abgeben kann. Von hier aus stellte sich ihm dann auch von neuem die Frage nach den tragenden und treibenden Kräften des Lebens des einzelnen Menschen, der Völker, der Menschheit: Leben sie aus den Theorien des Verstandes, die in den Schlagworten von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, vom Glück der meisten, vom berechenbaren Nutzen und anderen Begriffen dieser Art Ausdruck finden? Oder leben sie wesentlich aus anderen Kräften – vielleicht aus der Kraft des »Volksgeistes«, der Kraft ihrer »Idee« aus ihrer Religion oder aus den dunklen Kräften des Unterbewusstseins?
    Bald nach der Entlassung aus dem Zuchthaus musste Dostojewskij seinen Dienst als einfacher Soldat bei der Garnison in Semipalatinsk antreten, einer kleinen sibirischen Stadt mit halb orientalischem Charakter, noch einmal um einige Hundert Kilometer weiter von Europa entfernt als Omsk. Obwohl gesundheitlich labil, fand er Zeit und Kraft, seine geistige und literarische Tätigkeit wieder aufzunehmen. Die höhere Gesellschaft der sibirischen Kleinstadt öffnete sich für den jetzt verbannten, aber nicht vergessenen, einst berühmten Schriftsteller. Dostojewskij lernte hier auch seine erste Frau, Marja Issajewa, kennen, mit der er vom 14. Februar 1857 (2. Februar 1857) bis zu ihrem Tod 1864 recht unglücklich verheiratet war. Im Zuge einer gewissen Liberalisierung des russischen Lebens nach dem Krimkrieg und dem Tod des Zaren Nikolaus I. (1855) wurde Dostojewskij 1857 durch einen Gnadenerlass des Zaren Alexander II. wieder in seine früheren Rechte (des erblichen Adels) eingesetzt. Im gleichen Jahr durfte zum ersten Mal wieder etwas von ihm Geschriebenes gedruckt werden; 1859 wurde er aufgrund eines ärztlichen Attestes über seine Epilepsie aus dem Militärdienst entlassen und kehrte am 1. Januar 1860 (20. Dezember 1859) nach Sankt Petersburg zurück.
    WIEDER IN FREIHEIT
    Schon unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus hatte Dostojewskij wieder begonnen zu schreiben. Es drängte ihn, die einzigartigen Erlebnisse »aus dem Totenhause« literarisch zu gestalten. Aber an eine Veröffentlichung eines solchen Werkes von ihm, dem politischen Sträfling, war vorerst nicht zu denken. So schrieb er in dieser für ihn besonders schweren Zeit seine humorvollsten Werke: die Farce von »Onkelchens Traum« und die Geschichte »Das Dorf Stepantschikowo und seine Bewohner«.
    ›Unter anderem war dieser Gekreuzigte ein ganz großer Humorist.‹
    Thomas Mann über Fjodor Dostojewskij
    Verschiedene Gründe könnten Dostojewskij veranlasst haben, seine Ideen und Überzeugungen nur zurückhaltend zu äußern. Einerseits hatte er wohl selbst den Eindruck, dass diese Ideen erst reifen, sich behaupten und zu einem Ganzen formen müssten, ehe sie in erdichteten Gestalten und Ereignissen auftreten könnten. Andererseits musste er, der als »Politischer« verurteilt worden war, mit politischen und weltanschaulichen Bekenntnissen zurückhaltend sein: Die staatliche Zensur blieb misstrauisch und konnte selbst hinter freundlichen Worten feindlichen Hintersinn entdecken. Als er 1860 dann wieder vollberechtigt im bürgerlichen Leben stand, konnte er es wagen, seine »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Dieses Buch gibt die Erlebnisse Dostojewskijs im Zuchthaus ziemlich getreu wieder. Das Leiden unter den entsetzlichen äußeren Bedingungen, der Hass der Mitgefangenen gegen die Adligen, die Not, niemals allein sein, nichts schreiben, fast nichts lesen zu können, aber auch die Fülle eigenartiger, kraftvoller, manchmal sogar sympathischer Gestalten. Die Psychologie

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