Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
der 20-jährigen Jeanne Rozerot, der Näherin seiner Frau. Da Madame Zola des Öfteren leidend war, hatte sie ihren Gatten selbst zu Spaziergängen mit dem hübschen Mädchen animiert. Jeanne hatte »helle Augen, volle Lippen, vor allem einen zarten Hals, rund und samten, schattiert von feinen kurzen Härchen im Nacken«. Der Dichter war 27 Jahre älter als sie. »Es war ungeheuerlich«, gab er in einem seiner Romane zu, »aber es war wahr, er hatte nach all dem Hunger einen brennenden Hunger nach dieser Jugend, nach dieser Blume so reinen Fleisches, die so gut duftete.« Zola war unsterblich verliebt, stutzte sich den Bart und kleidete sich plötzlich elegant. In Paris brachte er die Geliebte im vierten Stock des Hauses 66, Rue Saint Lazare unter, wo am 20. September 1889 das erste Kind, Denise, auf die Welt kam.
ZOLA ALS FOTOGRAF
Zolas genaue Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit mit all ihren Erscheinungsformen und sein akribischer Blick für jedes Detail stellte der Naturalist auch als Fotograf unter Beweis. Der Fotografie sprach er eine wichtige Rolle bei der Erkenntnis der Realität zu; rund 6000 Aufnahmen mit seinen etwa zehn Kameras bilden ein fotografisches Archiv seiner naturalistischen Weltanschaung.
Ein Beispiel für seine Meisterschaft auf dem Gebiet der Fotografie ist eine besondere, 1900 anlässlich der Weltausstellung festgehaltene Sicht auf den Eiffelturm – das heutige Wahrzeichen der französischen Metropole, das der französischen Ingenieur Gustave Eiffel 1885–89 konstruierte.
Zola verzweifelte schier über sein Doppelleben, zumal er auch das Leben mit seiner Ehefrau nicht beenden wollte. Als zwei Jahre später, am 25. September, ein zweites Kind, Jacques, geboren wurde, erhielt der gerade mit seiner Gattin durch die Pyrenäen reisende Zola davon durch eine verschlüsselte Zeitungsanzeige Kenntnis – ebenso wie seine wütende Frau.
Im Sommer 1893 richtete sich Jeanne Rozerot mit ihren Kindern in Cherverchemont ein, gegenüber von Médan, einige Zeit später in Verneuil. Es kam zu regelmäßigen heimlichen Treffen, zu denen Zola mit dem Fahrrad fuhr. Die Geliebte erschien ihm jedes Mal wie eine impressionistische Vision: »Nur leicht geschützt durch ihren Sonnenschirm, entfaltet sie sich, aufgehend in diesem Lichtbad wie eine Pflanze in der prallen Mittagssonne.« Gabrielle hatte sich inzwischen mit den skandalösen Verhältnissen, mit diesem so provokanten Doppelleben arrangiert. Und Zola fotografierte eifrig. Auf den Aufnahmen beider »Ehefrauen« finden sich manchmal sogar die gleichen Gegenstände: etwa die Gartenstühle, die man auf den Fotos von Médan und auf denen von Verneuil entdecken kann. Nach dem Tod des Schriftstellers söhnte sich Gabrielle endgültig mit Jeanne aus, sodass die beiden unehelichen Kinder den Namen »Zola« annehmen durften.
DIE AFFÄRE DREYFUS
1893 erschien mit »Le Docteur Pascal« der 20. und letzte Band der »Rougon-Macquart«. 1894 gab Zola den ersten Band der Trilogie »Drei Städte« heraus: Dem dreibändigen Werk über »Lourdes« folgten die ebenfalls dreiteiligen Stadtromane »Rom« (1896) und Paris (1898). Im selben Jahr wie das Erstlingswerk dieser Reihe wurde der französische Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, von Geburt Elsässer und jüdischer Abstammung, unter fadenscheinigen, von Antisemitismus gesteuerten Gründen verhaftet und auf die Teufelsinsel deportiert. Die Volksöffentlichkeit geriet in Aufruhr. Zola veröffentlichte im Dezember 1897 im »Figaro« seinen ersten Artikel, in dem er für den Beschuldigten Stellung bezog. Am 13. Januar 1898 publizierte er in der Zeitschrift »L’Aurore« seinen Brief an den Ministerpräsidenten Félix Faure, mit der – von Georges Clemenceau stammenden – berühmten Überschrift »J’accuse« (Ich klage an). Der Schriftsteller wurde daraufhin wegen Verleumdung der Armee am 23. Februar 1898 zu hoher Geldstrafe und einem Jahr Gefängnis verurteilt und mit einer gezielten Verleumdungskampagne überzogen. Freunde überzeugten ihn daraufhin, ins Exil zu gehen. Am 18. Juli reiste er nach England ab, wo ihn Gabrielle und Jeanne abwechselnd besuchten. Am 3. Juni 1899 hob der zuständige Gerichtshof das Urteil gegen Dreyfus auf (die vollständige Rehabilitierung erfolgte hingegen erst 1906); bereits am folgenden Tag ging Zola an Bord eines Schiffes und kam wiederum einen Tag später in Paris an. Das Recht hatte unter dem Druck der öffentlichen Meinung gesiegt – und Zola hatte mit seinen Waffen, der
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