Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
in eine neue Position und griff nach einem Vergrößerungsglas.
Eine Stelle am Hals der jungen Frau hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Dabei grunzte
er zufrieden, bewegte die Lupe von links nach rechts, leuchtete das Areal neu aus
und begann erneut mit der Untersuchung.
Plötzlich schnalzte er leise.
Peter Nachtigall warf ihm einen irritierten
Blick zu. Dr. Pankratz mit Detektivmiene erweckte den Eindruck eines Menschen, dem
seine Arbeit von Grund auf Freude bereitete.
Endlich richtete er sich auf und sah in
die angespannten Gesichter der Umstehenden.
»Hier, das ist ja wirklich interessant«,
die Begeisterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Sie muss eine Art Kette
getragen haben. Jemand hat sie ihr mit Gewalt vom Hals gerissen.«
Er griff nach einer langschenkligen Pinzette
und entfernte ein für die anderen unsichtbares Faserstück vom Hals des Opfers. Eilig
trug er es hinüber zum Mikroskop und legte die Probe auf einen Objektträger.
Niemand sprach.
Aller Augen waren auf Dr. Pankratz’ gebeugten
Rücken gerichtet.
»Es ist ein textiles Band. Braun.«
»Kein Lederband?«, fragte Jens Schubert
unvorsichtigerweise und fing sich einen vernichteten Blick ein.
»Nein! Man kann Leder- und Textilfasern
sehr gut unterscheiden. Ich tippe auf eine Art Schuhband. Das wird uns sicher die
weitere Analyse zeigen.«
Aus dem Augenwinkel beobachtete Nachtigall,
wie Jens Schubert ein schwarzes, ledergebundenes Notizbuch aus der Tasche zog und
sich Notizen machte, es wieder einsteckte und den edlen Stift in die Sakkotasche
schob.
»Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie der
Meinung sind, es könne sich bei diesem Mord um eine Tat mit ausländerfeindlichem
Hintergrund handeln«, stellte der Mitarbeiter des BKA schlecht gelaunt klar.
»Das Motiv herauszufinden, fällt nicht in
den Aufgabenbereich des Rechtsmediziners«, wurde er prompt belehrt. »Der findet
bestenfalls Hinweise darauf, was der Täter sich bei seinen Handlungen gedacht haben
könnte – zum Beispiel bei einer Sexualstraftat oder einem Ritualmord. Ich bin doch
kein Orakel!«
Beleidigt trat Jens Schubert etwas zurück
und zückte sein Notizbuch.
»Halten wir fest: Tatwaffe mit langer, schmaler
Klinge. Die Verstümmelungen wurden mit einem Messer ausgeführt, das eine glatte,
leicht sichelförmige Klinge hat. Das erleichterte das trichterförmige Ausschälen
der Augäpfel. Die Zunge packte er mit der linken Hand, drückte sie fest zusammen
und schnitt den vorstehenden Teil ab. Die weichen Nasenteile trennte er glatt ab.«
»Rechtshänder? Sicher? Woran erkennt man
das?«, hakte Wiener interessiert nach.
»Das sehe ich an der Schnittführung. Sehen
Sie – hier, hier und hier. Dort hat er angesetzt und dann von links nach rechts
geschnitten. Eindeutig.«
»Der Täter schleicht sich von hinten an
sein Opfer heran.«
»Ja. Vielleicht packt er ihre linke Hand.
Sie dreht sich nicht um, sondern rennt los. In dem Moment trifft sie der Hieb. Sie
geht zu Boden. Es folgt unmittelbar der zweite Schlag auf den Hinterkopf. An den
Händen sind keine Abwehrspuren zu sehen – sie muss sofort bewusstlos gewesen sein.
Oder tot. Das klären wir jetzt«, verkündete Dr. Pankratz und griff zu einer kleinen
Motorsäge, um den Brustkorb zu eröffnen.
Nachtigall stöhnte lautlos und grub seine
Fingernägel fest in die Handflächen.
Als er sein Gesicht im Spiegel an der gegenüberliegenden
Wand entdeckte, stellte er fest, dass es grünlich schimmerte.
Dr. Pankratz setzte seine Arbeit fort und
erläuterte seinen Zuhörern, wie seiner Meinung nach der Mord verübt wurde: »Tatort
und Fundort liegen nur wenige Meter auseinander. Ich habe mir die Stelle angeschaut.
Der tödliche Hieb auf den Kopf erfolgte direkt auf dem schmalen Weg hinunter in
den Puschkinpark. Danach wurde der leblose Körper ins Gebüsch an der Stadtmauer
gezerrt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie etwa selbst dorthin kroch um sich
in Sicherheit zu bringen – abgesehen davon, dass ich davon überzeugt bin, dass der
Hieb tödlich war. Dort, in diesem Versteck, nahm der Täter dann die Verstümmelungen
vor und ließ sein Opfer nur oberflächlich verborgen zurück.«
Anderthalb Stunden später wussten sie kaum mehr über das
Opfer.
»Wenigstens kann ich mit Sicherheit sagen,
dass alle Schnitte, die der Täter nach dem Überfall setzte, nach Eintritt des Todes
erfolgten. Keine sadistische Quälerei und danach ein erlösender Schlag – je nachdem,
welche Waffe er benutzte, brauchte er
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