Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
Nachtigall.
Entgeistert sah sie den Hauptkommissar an.
»Woher?«, meinte sie, doch dann öffnete
sie einfach den Reißverschluss ihrer Jacke und zog einen silbern glänzenden Gegenstand
hervor. Zögernd legte sie ihn in die fordernd ausgestreckte Hand Nachtigalls.
»Wo finden wir das Schließfach?«
»Bei der Sparkasse.«
»Sie wissen, was Claudine darin aufbewahrte?«
Heide Fischer nickte zögernd.
»Sie haben also die ganze Zeit Bescheid
gewusst?«, Skorubski konnte es kaum fassen.
Heide Fischer schwieg.
»Sie hätten getötet werden können – andere
sind gestorben. Wofür?«, brauste Nachtigall auf und begann, aufgeregt hin und her
zu laufen.
»Wenn Sie das mit dem Schlüssel wissen,
dann kennen Sie auch den Rest«, gab sie patzig zurück und presste die Lippen fest
aufeinander, bis sie ganz weiß waren.
»Es geht um Menschenhandel und Zwangsprostitution.«
»Ja – Frau Alvarez vom ›L’Amour‹ ist auch
darin verwickelt. Claudine hatte eine Liste mit Kontaktpersonen erstellt und in
dem Schließfach sicher verwahrt. Eines Tages erwischte Frau Alvarez sie dabei, wie
sie um das Versteck der Frauen herumschlich. Es ist …«
»Wir wissen, wo es ist.«
»Prima, dann haben Sie den Fall ja doch
gelöst. Claudine erzählte mir davon – erst kurz vor ihrem Tod. Sie meinte, es müsse
jemanden geben, der ihre Mission weiterführt, falls ihr etwas zustieße. Und nun«,
sie begann zu weinen. »Ich bin von Natur aus feige. Nicht so wie Claudine. Vielleicht
war es mir auch nicht so wichtig, weil ich mit diesen Frauen nie wirklich Kontakt
hatte. Ich bin nicht die Richtige, um Claudines Projekt abzuschließen.«
»Sie haben lieber in Kauf genommen, dass
andere sterben mussten!« Nachtigall bebte vor Zorn.
»Sie sollten sich wieder setzen«, sagte
Heide Fischer kalt. »So ist es nämlich nicht gewesen.«
»Genau so war es. Beate Michaelis und Meinert
Hagen starben, Norbert Grundmann wurde schwer verletzt. Sie waren völlig ahnungslos.«
»Nein – alle wussten von dem Schlüssel.
Alle wussten von geheimen Unterlagen, die in einem Schließfach lagerten. Aber den
anderen war das eben auch nicht wichtig. Claudine hat es sicher auch nur im Nebensatz
erwähnt, um niemanden neugierig zu machen. Aber völlig ahnungslos war keiner.« Sie
hob die Stimme: »Sie haben keine Vorstellung davon, was für eine Persönlichkeit
Claudine war. Wenn man ihr schwor, man würde niemals etwas verraten, und gelte es
das eigene Leben, so war man an diesen Eid gebunden. Niemand widersetzte sich ihr.
Sie hatte eine solch unglaubliche Aura. Aber das können Sie natürlich nicht verstehen«,
setzte sie trotzig hinzu.
»Mit Ihrer Unterstützung wäre der Fall viel
schneller zu lösen gewesen. Zwei Menschen wurden getötet – wie wollen Sie mit dieser
Verantwortung umgehen?«
»Jetzt wissen Sie ja Bescheid. Also fangen
Sie den Mörder! Das ist Ihre Verantwortung – um meine machen Sie sich mal keine
Gedanken!« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand. Alle drei lauschten
wie betäubt dem Klacken ihrer Absätze, das sich über den Gang entfernte.
Nachtigall fand als Erster seine Sprache
wieder. »Michael, konntest du mit den Kollegen sprechen?«
»Nein – da herrscht irgendein Chaos auf
Station. Die Schwester hat nur gesagt ›keine Zeit, Notfall‹ und legte auf.«
»Notfall? Albrecht, nimm dir eine Streife
und sieh nach, was da los ist!«
Skorubski brach eilig auf.
»Michael, suche doch mal nach allen möglichen
Verbindungen nach Freiburg – es reicht nicht, sich den Kontakt zu wünschen, wir
brauchen Beweise. Du weißt schon, Verkehrskontrollen der letzten Tage, Blitzer,
Laserkontrollen, Beobachtungen, die von Passanten gemeldet wurden … Vielleicht finden
wir ja was.«
Nachtigall drehte den Schlüssel in der Hand.
Um diese Zeit würde es nicht leicht sein,
jemanden zu finden, der ihm den Zugang zu einem Schließfach ermöglichen würde, stellte
er nach einem Blick auf die Uhr fest.
»Schönen Feierabend!«, wünschte ihm ein Kollege, als er
auf den Gang hinaustrat.
»Danke. Gleichfalls.«
Nur wenige Schritte später drehte sich der
Hauptkommissar um.
Dann spurtete er dem Beamten hinterher.
»Abgelöst worden? Gerade rechtzeitig vor
dem Feierabend?«
»Nee, ich denke, ihr habt den Fall abgeschlossen?
Ihr habt doch die ganze Bande in Sack und Tüten«, lachte der andere gemütlich und
ging weiter.
»Und wer zum Teufel, passt jetzt auf Heide
Fischer auf?«
72
Albrecht Skorubski fand im
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