Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
ziemlich viel Kraft. Die Schädeldecke ist
tatsächlich mit einem einzigen Schlag komplett durchtrennt worden. Splitter des
linken Os temporale wurden durch die Klinge der Waffe tief ins Gehirn getrieben,
bis in den linken Seitenventrikel.«
»Os temporale?«, fragte Michael Wiener,
und Dr. Pankratz lächelte, zufrieden darüber, einen interessierten Zuhörer zu haben.
»Schläfenbein.«
Dann setzte er fort: »Das Loch in der Stirn
rührt von einem Schlag her – suchen Sie am Tatort nach einem Rohr oder einem handlichen
Stein. Wir führen eine Analyse der Anhaftungen durch, dann kann ich Ihnen genau
sagen, ob die Waffe aus Metall war oder nicht.«
»Ein männlicher Täter, durchtrainiert und
stark. Passt doch perfekt zu unseren Erwartungen, oder? Ein rechter Schläger«, konstatierte
Jens Schubert, und tiefe Zufriedenheit schwang in seinen Worten mit.
»Sie sollten dringend an Ihrem Menschenbild
arbeiten!«, wies Dr. Pankratz ihn schroff zurecht, »Frauen sind doch keine schwächlichen
Küken!«
»Können Sie irgendetwas über die Größe des
Täters sagen?«, versuchte Nachtigall die Streithähne wieder auf den Fall zu konzentrieren.
»Nein. Nicht genau. Nach dem Winkel zu urteilen,
tippe ich auf eine Person, die gleich groß oder um Weniges kleiner als das Opfer
war.«
Er griff nach einer Nadel und verschloss
den Brustraum sorgfältig.
Ein Sektionsassistent trat an seine Seite
und reichte Dr. Pankratz einen Notizzettel.
Der Rechtsmediziner runzelte die Stirn und
nickte dann.
»Soll noch einen Moment warten. Ich komme
raus und begleite sie selbst.«
Claudine Caros Tante war eingetroffen.
11
Haiti
Im Nebengelass lagerten die vorbereiteten Opfergaben, die
für den Loa benötigt wurden. Jeder der Götter bevorzugte andere Gerichte, die für
die Rituale von den Hunsi mit viel Sorgfalt gekocht oder gebacken wurden. Ein würziger
Duft hing in diesem Raum. Der Priester warf einen prüfenden Blick auf die Rumvorräte.
Baron Samedie, die finstere Seite von Gédé, dem Gott der Toten, bestand auf reichlich
Rum der besten Marke. Stets kleidete er sich nach seiner Ankunft um und trug edle
Gewänder, manchmal liebte er es, Hüte aufzusetzen sowie eine Sonnenbrille. Stets
verlangte er nach dem kunstvollsten magischen Zeiger, über den der Priester verfügte.
Es galt, darauf vorbereitet zu sein.
Natürlich war besonders wichtig, dass von
allen Speisen und sonstigen Gaben ausreichende Mengen zur Verfügung standen, sonst
konnte der Loa leicht verärgert reagieren. Möglicherweise wurde er auch so wütend,
dass er die angebotenen Opfergaben ablehnte und den Auftraggebern der Zeremonie
später bei der Durchführung ihrer Pläne nicht als Unterstützer zur Verfügung stünde.
Zufrieden stellte der Hungan fest, dass
alles von den Hunsi perfekt vorbereitet worden war.
Konzentriert richtete der Priester nach
Einbruch der Dunkelheit an einem kleinen Altar in seinem Schlafzimmer die notwendigen
Zutaten. Kräuter mit betörendem Duft, Mehl aus menschlichen Knochen, ein winziges
Schlüsselbein von einer Ratte und vieles mehr. Die für den Zauber unabdingbaren
magischen Formeln notierte er in kunstvoll verschnörkelter Schrift auf einem Pergament,
rollte es zu einer Röhre zusammen und umwickelte diese mit einem schmalen Band.
Er nahm ein Stück Kohle und malte das Vévé, das persönliche Symbol seines Schutzgottes,
auf den Boden eines Ledersäckchens.
Danach entzündete er eine Kerze und ein
Räucherstäbchen. Die Kerze symbolisierte das Leben, der Duft des Stäbchens sollte
ungünstige Einflüsse vertreiben. Vorsichtig brachte er in einem Löffel Wachs zum
Schmelzen. Zuerst füllte er das Knochenmehl und die zerriebenen Kräuter sowie weitere
Ingredienzien mit Zauberkraft in den Beutel, dann legte er den Rattenknochen und
die Pergamentrolle dazu und zog ihn fest zu. Auf den Knoten tropfte er etwas Wachs,
um das Quagga zu versiegeln.
Er würde es zur Zeremonie anlegen.
Bei solch einem Ritual galt es für einen
Hungan schließlich, in erster Linie sich selbst zu schützen.
12
Hauptkommissar Peter Nachtigall wurde vom Eintreffen der
Tante des Opfers ebenso überrascht wie alle anderen. Er überprüfte sein Mobiltelefon.
Albrecht Skorubski hatte versucht, ihn zu erreichen, stellte er fest, aber da das
Gerät ausgeschaltet war, hatte er den Anruf nicht entgegennehmen können.
»Warum hat man die arme Frau denn so überstürzt
hierhergeschickt?«, fragte Michael Wiener flüsternd.
»Wahrscheinlich«,
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