Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
antwortete Nachtigall
ebenso leise, »liegt das an dem vermuteten fremdenfeindlichen Hintergrund. Dr. März
steht wohl schon ziemlich unter Druck.«
Die kräftige Frau trug einen dunklen Rock und eine grellgrüne
Bluse darüber.
»Madeleine Treschker«, stellte der Beamte
vor, der sie hierher begleitet hatte. »Das ist Hauptkommissar Peter Nachtigall.«
Die Frau nickte Nachtigall kurz zu.
»Man hat mir gesagt, es habe in der Stadt
einen Überfall auf eine junge Frau gegeben. Auf eine schwarze Frau. Ich soll hier
überprüfen, ob es sich dabei um meine Nichte handeln könnte«, erklärte sie mit schleppender
Stimme.
Dr. Pankratz erschien wenig später in der
Tür.
Er hatte die blutverschmierten Kleidungsstücke
gegen einen sauberen Kittel ausgetauscht.
»Sie sind gekommen, um das Opfer zu identifizieren?
Mein Name ist Pankratz, ich bin der zuständige Gerichtsmediziner. Wenn Sie bitte
mitkommen möchten.«
Zögernd setzte sich Madeleine Treschker
in Bewegung.
»Selbst wenn es nicht Ihre Nichte ist –
es wird sich Ihnen ein schrecklicher Anblick bieten«, warnte der Hauptkommissar.
»Es hilft nichts, oder? Ich muss mir die
Tote auf jeden Fall ansehen – schon um sicher zu sein«, erwiderte die Frau tapfer.
Wenige Sekunden später entdeckte sie ihre
Nichte, an der – neben all den Verstümmelungen – die Spuren von Dr. Pankratz’ Untersuchung
deutlich zu sehen waren, auf einem der Edelstahltische. Mit einem lauten Schmerzensschrei
warf sie sich über das Opfer. Alle, selbst Jens Schubert, mussten mit zufassen,
um die, sich entschlossen zur Wehr setzende Tante, von der Leiche ihrer Nichte wegzuzerren.
Sie schrie unverständliche Worte, trat und schlug nach den Menschen, die nach ihr
griffen, ein Tablett mit Obduktionsbesteck krachte scheppernd zu Boden. Madeleine
Treschker konnte sich nicht auf den Beinen halten, wurde von vier Männern gestützt
schließlich in einen Nebenraum geführt, wo sie minutenlang wimmernd auf einem Stuhl
saß, das Gesicht in den Händen verborgen, unfähig mit jemandem ein Wort zu sprechen.
Eine schreckliche Szene.
Selbst Dr. Pankratz war noch blasser als
gewöhnlich.
Ein Kollege brachte später die schluchzende
Tante des Opfers im Streifenwagen nach Hause zurück und benachrichtigte eine Freundin,
die ihr beistehen sollte.
Zusammen mit den beiden Kollegen fuhr Peter Nachtigall
in der Zwischenzeit in die Wohnung des nun nicht mehr namenlosen Opfers.
»Claudine Caro, 22 Jahre alt, Studentin
im Fachbereich 4, Landnutzung und Wasserwirtschaft. Das ist dieser Studiengang,
der deutschlandweit nur hier angeboten wird – kurz und knapp könnt man au’ einfach
Ökologie sage’«, rekapitulierte Wiener die Informationen, die sie von der Tante
erhalten hatten. Frau Treschker selbst lebte schon seit mehr als 20 Jahren in Deutschland,
war als Altenpflegerin und Gesellschafterin einer hochbetagten Dame ins Land gekommen
und inzwischen seit mehr als 17 Jahren mit Rainer Treschker, einem Ingenieur der
Firma ›Vattenfall‹ glücklich verheiratet. Sie lebte in einer kleinen Spreewaldgemeinde
und war von den Bewohnern Maibergs sehr freundlich aufgenommen worden. Das erzählte
sie auch ihrer Nichte Claudine, die einige Studiensemester im Ausland verbringen
wollte. Schon bald waren die Formalitäten geregelt, das Visum bewilligt, die Bürgschaft
unterzeichnet, und Claudine konnte sich immatrikulieren. Sie fand sogar einen Job,
um etwas Geld für ihren Unterhalt hinzuzuverdienen. Probleme ernsterer Natur habe
es nie gegeben, hatte die Tante entschieden versichert. Ihre Nichte sei allseits
beliebt gewesen, stets hilfsbereit und freundlich.
Peter Nachtigall war sich darüber im Klaren,
dass eine Tante – und sei sie noch so nett und liebenswert – nicht notwendigerweise
auch alle Geheimnisse ihrer Nichte kennen musste.
»Sie hat bei ›Burger King‹ gearbeitet. Dort
werden wir die Kollegen befragen. Bestimmt wissen die etwas über Freunde, Bekannte,
auffällige Gäste. Vielleicht finden wir in diesem Umfeld jemanden, der das Opfer
gehasst hat«, zählte Nachtigall auf. »Aber zuerst fahren wir zur Uni. Dort suchen
wir ebenfalls nach Freunden, Kommilitonen oder Neidern. War sie eine gute Studentin
oder eher nicht? Sind Beziehungen ihretwegen gescheitert? Das volle Programm.«
»Die Eltern lebe’ auf Haiti. In einem kleine’
Dorf – eigentlich klang es für mich wie ›am Rande der Zivilisation‹. Frau Treschker
meinte, sie würde’ vielleicht herkomme’ und ihre Tochter
Weitere Kostenlose Bücher