Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
nach Hause begleite’, um
sie in der Heimat nach den Regeln ihrer eigenen Religion zu beerdigen. Ich dachte,
Haitianer sind christlich?«, fragte Michael Wiener.
»Hmhm. Katholisch, nehme ich an. Die katholischen
Riten können sie gut mit ihrer alten Religion verbinden.«
»Aha. Und welche Rituale kann sie dann g’meint
habe’?«
»Voodoo«, antwortete Nachtigall sonderbar
dumpf, und seine Miene verdüsterte sich.
Das kleine Zimmer auf dem Campus war farbenfroh gestaltet.
Bunte Kissen und Decken lagen auf gemusterten Teppichen. Der gesamte Raum wirkte
fröhlich und gemütlich.
Auf dem Fensterbrett entdeckte Nachtigall
ein Gebilde aus Holz, das um die zentrale Kerze herum wie ein gleichschenkliges
Kreuz anmutete. Nachdenklich drehte er es in den Händen hin und her, dann stellte
er es zurück und sah sich forschend um. An der Innenseite der Tür fiel ihm ein kleiner
lederner Beutel auf, der an einem Klebehaken baumelte. Neugierig zog er ihn auseinander,
spähte hinein und fand, was er erwartet hatte: Ein weißes Pulver sowie einen weißen,
zusammengerollten Zettel mit einem fremdsprachlichen Text darauf. Nachdem er nun
wusste, wonach er suchen musste, waren auch die anderen Verstecke der Lederbeutel
rasch gefunden. Einen hatte Claudine Caro unter das Bett gelegt, einen anderen an
der Gardinenstange festgeknotet und in den Falten des Vorhangs verborgen. Beunruhigt
zog Nachtigall die Nachttischschublade auf.
Michael Wiener startete den Computer.
»Oh – das habe ich schon lang’ nicht mehr
g’sehe’. Ich glaub, die Firma gibt es gar nicht mehr. Der ist wirklich sehr alt«,
stellte er lobend fest und jammerte dann. »Und schrecklich langsam. Ach – un passwortg’schützt
ist er au’ no’!«
»Lass gut sein. Angelika Wiesendorf wird
den Zugangscode für uns knacken. Du weißt doch, ihr bleiben keine Dateien verborgen«,
lachte Albrecht Skorubski und verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen.
Peter Nachtigall forschte derweil in einer
Schreibtischschublade nach persönlichen Papieren.
»Keine private Korrespondenz. Kein Ausweis,
kein Foto, kein Sparbuch, keine Kontoauszüge, kein Adressbuch. Nichts. Nur Skripte
fürs Studium«, stellte er unzufrieden fest.
»Vielleicht hat sie ja private Dinge anderswo
aufbewahrt. In irgendeinem Spind oder bei einer Freundin.«
Michael Wiener nickte.
»Es war ihr hier unter Umständ’ nicht sicher
g’nug.«
»Warum so kompliziert – Spind, Freundin?
Wichtige Unterlagen, die sie hier nicht aufbewahren möchte, würde sie doch bestimmt
am ehesten bei ihrer Tante deponieren?«, fragte Nachtigall erstaunt, und die beiden
Kollegen zuckten mit den Schultern.
»Gut, heben wir uns dieses Problem für das
Gespräch mit der Tante auf. Wir gehen jetzt erst mal rüber in die Uni und erkundigen
uns nach ihren Freunden und Kommilitonen. Vielleicht erzählt uns der ein oder andere
Student bei der Gelegenheit ein bisschen mehr über die junge Frau.«
»Seltsam, nicht wahr? Obwohl wir nun ihren
privatesten Bereich durchsucht haben, ist sie uns kein bisschen nähergerückt. Wir
haben nichts weiter über sie erfahren«, murrte Skorubski.
»Doch – wir wissen nun, dass in diesem Zimmer
keine handgreifliche Auseinandersetzung stattgefunden hat. Und wir wissen, dass
sie panische Angst hatte.«
Auf dem Weg in die Fakultät fragte sich Michael Wiener,
woraus Nachtigall das geschlossen haben wollte. In seinen Augen deutete nichts auf
größere Angst oder Besorgnis des Opfers hin. Es gab nur eine handelsübliche Kette
an der Tür. Je näher sie den Lehrgebäuden kamen, desto dichter wurde der Strom von
Studenten, der sich auf die Mensa zu bewegte.
»Aha. Für viele wohl Mittagspause. Versuchen
wir unser Glück also dort zuerst«, beschloss Nachtigall und änderte abrupt die Richtung.
Eine junge Frau mit erbsgrünen Haaren verwies
sie auf die Frage nach Freunden von Claudine Caro an einen Tisch, an dem drei Studenten
heftig debattierten.
»Klar kommt die Klimakatastrophe. Ich verstehe
gar nicht, wie du überhaupt noch Zweifel haben kannst«, erregte sich ein dunkelhaariger
Mann und schleuderte zornig seine dichten Locken über die Schultern.
»Eben nicht«, gab ein anderer gelassen zurück.
»Es existieren auch Modelle, die auf eine völlig andere Entwicklung hindeuten. Eine
neue Eiszeit zum Beispiel. Statt Badehose Anoraks aus Seehundfell«, verteidigte
er seinen Standpunkt. »Die Klimaforscher und Meteorologen sind sich nicht einig,
was die Bewertung von
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