Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
unserem
Fall zu tun haben?«
»Der Tempel gehört zu einer der Gemeinden
um Port-au-Prince. Die heiligen Gefäße enthielten die Seelen Initiierter. Diese
Menschen sind auf besondere Weise mit dem Glauben verhaftet. Sie waren nach langer
Lehre und einer Zeremonie, die sich über mehrere Tage erstreckte, bereit, ihre Seele
auf Dauer abzugeben und einen der Loas zu heiraten. Die Gottheit zieht quasi in
den Körper des Erwählten ein. Im Voodoo spricht man von Heirat.«
»Und seine eigene Seele verbleibt in einem
Tongefäß – das habe ich verstanden. Aber was kann ein Dieb damit wollen? Er macht
den Krug auf, und die Seele flieht!«
»Nein – so einfach ist es leider nicht.
Falls der Dieb weiß, wem diese Seele gehört, kann er sie zum Beispiel an einen Bokor
verkaufen. Das bedeutet, er kann dem Zauberer den wahren Namen mitverkaufen, und
damit ist die Seele dem Bokor untertan. Der kann mit ihr tun und lassen, was er
will. Er kann sie zwingen, Böses zu tun, Krankheiten zu verursachen oder gar zu
töten. Für den ursprünglichen Besitzer der Seele ist das entsetzlich, weil er nun
missbraucht wird und auch nach seinem Tod keine Ruhe finden wird – und für die Familie
ist es ebenfalls eine schreckliche Angelegenheit, weil der Sohn oder die Tochter
zu einer Art Zombie geworden ist. Vor solch einem körperlosen Wesen könnte sich
Ihr Opfer gefürchtet haben.«
Nachtigall bedankte sich und wollte gerade
den Inhalt für die Kollegen zusammenfassen, als Wieners Handy klingelte.
Der junge Mann zog es hervor, machte eine
entschuldigende Handbewegung und verschwand auf den Gang.
»Warum geht er denn raus?«
»Vielleicht privat«, feixte Skorubski.
Da wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen,
und Wiener sprudelte aufgeregt: »Die Tante ist nicht echt!«
»Die Tante ist nicht echt«, echote Skorubski
und warf dem Kollegen einen besorgten Blick zu.
»Ja! Frau Treschker ist gar nicht die Tante
von Claudine Caro!«
Nachtigall sprang auf und griff nach dem
Autoschlüssel.
»Verdammt noch mal! Wurden ihre Angaben
denn nicht überprüft, als sie ihre angebliche Nichte vermisst meldete?«
»Wohl nicht. Aber ich habe bei der Ausländerbehörde
nachgefragt. Von dort hat man mir gerade bestätigt, dass Madeleine Gomez, wie sie
damals noch hieß, keine Geschwister hat. Ohne Geschwister gibt es weder Nichten
noch Neffen!«
»Wir holen sie her!«, beschloss Nachtigall
und hatte schon einen Fuß auf dem Gang, als Wiener ihn warnte: »Wenn diese vorgebliche
Tante der Schlüssel zu Haiti und den Morden ist – könnte sie auch selbst der Täter
sein.«
61
Heide Fischer fühlte sich schuldig.
Der Gedanke, die Morde wären zu verhindern
gewesen, wenn sie ihr Wissen an die Polizei weitergegeben hätte, verfolgte sie bis
in ihre Träume. Da half es auch nicht, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen,
dass die Studenten auch ein Stück weit selbst schuld daran waren, die Morde durch
ihre Leichtfertigkeit erst möglich machten. Die hatten eben nicht alle Informationen,
wussten nicht, mit wem sie es zu tun bekommen hatten.
Mit zitternden Fingern fischte sie die Visitenkarte
des großen Polizeibeamten aus ihrer Brieftasche, drehte sie unschlüssig in der Hand.
Was sollte sie ihm denn sagen?
»Hallo, ich glaube, ich weiß, in welchen
Kreisen Sie den Täter suchen müssen?«, flüsterte sie vor sich hin, um die Wirkung
ihrer Worte zu überprüfen. Das war albern. Was wusste sie denn schon? Außerdem,
was sollte sie tun, wenn Claudine sich ihre ›Erkenntnisse‹ nur eingebildet hatte?
Nein, entschied sie, so war es nicht!
Zwei von Claudines Freunden waren inzwischen
gestorben.
Gestorben!, dachte sie hämisch, nenn das
Kind doch beim Namen! Sie wurden ermordet!
Aber selbst wenn die Dinge, von denen Claudine
berichtet hatte, keine Hirngespinste waren, konnte die Polizei nichts unternehmen.
Es gab keine Namen, keine Beweise.
Schlimmer noch! Womöglich käme bei diesem
Kommissar der Verdacht auf, sie habe sich selbst all das ausgedacht, nur um sich
interessant zu machen. Entmutigt ließ sie die Karte sinken.
Warum war nur immer alles so kompliziert?
Wenn sie einfach nachsehen würde?, überlegte
sie und verwarf diese Idee sofort. Damit geriete sie nur in den Fokus des Täters.
Nein, nein – das war vollkommen ausgeschlossen!
Sie beschloss, den Einzigen aus dem Umfeld
Claudines anzurufen, den sie zufällig kennengelernt hatte. Kirk Damboe! Er sprach
sie an, als er auf seinen Salat warten musste, fragte, was sie machte,
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