Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
schon etwas anderes als unser Glaube an einen letztlich doch
fürsorglichen Vatergott«, setzte sie dann ernst hinzu.
»Na ja – so fürsorglich ist er nun auch
wieder nicht. Wir führen Kriege, Menschen sterben an der Front, an unheilbaren Krankheiten,
finden selbst keinen Weg aus der Krise … Fürsorglich stelle ich mir irgendwie völlig
anders vor.«
»Ein bisschen so wie bei Mutti?«, neckte
sie ihn. »Mit drei regelmäßigen Mahlzeiten, Ratschlägen für alle Wechselfälle des
Lebens und Pflastern in der Tasche für den Fall, dass doch mal was schiefgeht?«
»Vielleicht so – ja«, gab er schmunzelnd
zu.
Marnie griff über den Tisch und kuschelte
ihre kalte Hand unter seine warme.
Vom Nachbartisch drang das Gespräch zweier
älterer Damen zu ihnen herüber, die sich offensichtlich einen gemütlichen Weiberabend
gönnten. Sie hatten sich Sekt bestellt und stießen mit klirrenden Gläsern an.
»Ach wie schön, dass wir uns heute Abend
mal freimachen konnten!«
»Ja«, bestätigte die andere mit schwankender
Stimme. »Immer nur Haushalt und Wäsche, das kann es ja auch nicht sein. Und Herbert
sitzt die ganze Zeit in seinem Sessel und hebt bestenfalls mal knurrend die Füße
an, damit ich drunter durchsaugen kann!«
»Tja, wenn man sie ständig um sich hat,
sind sie anstrengend. Mein Sohn hat ja auch noch immer keine Arbeit. Er sitzt den
ganzen Tag hinter dem Computer – und seit Neuestem steht er erst am Nachmittag auf.
Weil er natürlich nicht müde ist, läuft er die ganze Nacht durch die Wohnung und
stört meinen Schlaf. Aber Rücksicht nehmen die jungen Leute keine.«
»Die Arbeitssituation ist wirklich ein ernstes
Problem. Das liegt an den vielen Ausländern hier. Die blockieren die freien Stellen.
Mein Schwiegersohn ist nun auch schon seit einem halben Jahr ohne Stelle.«
»Aber manche von denen können hübsch sein.
Ist dir das auch schon aufgefallen? Bei uns in der Straße hat jetzt einer so eine
Schwarze geheiratet. Ich sehe sie manchmal, wenn sie am Fenster steht und auf ihn
wartet. Direkt stolz und aristokratisch. Und diese vielen Zöpfe! Was für eine Arbeit
das sein mag, die zu flechten.«
»Die kommen doch alle illegal. Arbeiten
hier im Bordell und schleppen uns lauter Krankheiten ein. AIDS zum Beispiel. Dann
kommen unsere Männer nach Hause und infizieren uns.«
Wiener warf einen Blick über die Schulter,
um die Damen besser in Augenschein nehmen zu können. Die eine war sehr mager, trug
eine weiße Bluse mit Rüschenkragen, der die Falten am Hals verbergen sollte. Dicke
Goldringe zierten ihre knochigen Finger.
Die andere, die Angst vor Ansteckung hatte,
trug ihre dauergewellten Haare in Violett. Ihr Outfit war sportlich, sie trug Jeans
und eine gemusterte Bluse darüber. Mit ihren sehnigen Fingern schob sie ihre Brille
immer wieder hoch.
»Misch dich bloß nicht ein!«, zischte Marnie
warnend über den Tisch, und Wiener drehte sich wieder zu ihr.
»Die Schwarze sieht aber nicht aus wie jemand,
der im Puff arbeitet«, erwiderte die Freundin und blieb die Erklärung dafür schuldig,
woran man das ihrer Meinung nach erkennen konnte. »Eher wie eine Studentin oder
so.«
»Also ich sage dir, mir sind diese Schwarzen
irgendwie unheimlich. Man weiß doch nie, was hinter deren dunkler Stirn für finstere
Gedanken wohnen mögen. Und die sehen auch alle gleich aus – nicht so wie bei uns,
wo du Lisa von Beate sofort unterscheiden kannst. Einer wie der andere. Wir haben
vor Jahren mal in Kenia Urlaub gemacht – und was soll ich dir sagen: Besonders in
der Nacht ist es schlimm. Diese weißen Augen. Die Leute verschwinden ja komplett,
wenn sie die Lider schließen, werden sie eins mit der Dunkelheit. Hu!«
Michael Wieners Miene blieb angespannt.
»Nun blende das doch einfach aus!«, riet
Marnie. »Latente Ausländerfeindlichkeit wirst du nicht ausrotten können.«
»Warum fahren diese Leute dann nach Afrika
in Urlaub? So ein Blödsinn! Sollen sie doch ihre Ferien im Bayerischen Wald verbringen.«
»Zum Gruseln, Michael. Um das Fremde schauerlich
hautnah zu erleben«, lachte seine Freundin. »Und dort wird ja auch Voodoo praktiziert.
Was für eine angenehm unheimliche Vorstellung.«
»Ich verstehe das trotzdem nicht«, trotzte
Wiener, und Marnie schob sich über den Tisch, um ihm einen Kuss zu geben.
»Habt ihr nicht zufällig auch einen Schwarzen
auf der Liste der Verdächtigen? Den könntet ihr ja nun noch einmal genauer unter
die Lupe nehmen, jetzt, wo du gelernt hast, wie
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