Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
wenn ich mich noch so sehr umschaue, eine solche Quelle kann ich nicht entdecken. Es bleibt mir nicht erspart, den Meißel anzusetzen und ein tiefes Loch in den Fels zu schlagen, um eine Quelle der Inspiration freizulegen. Um einen Roman zu schreiben, muss ich viel körperliche Kraft, Zeit und Geschick aufwenden. Für jedes Werk, das ich schreiben will, muss ich ein neues tiefes Loch graben. Doch da ich dieses Leben inzwischen viele Jahre führe, bin ich technisch wie körperlich sehr gewandt und effizient darin geworden, ein Loch in den harten Stein zu schlagen und Wasseradern zu entdecken. Sobald ich das Gefühl habe, dass eine Quelle versiegt, gehe ich instinktiv sofort auf die Suche nach der nächsten. Einem Schriftsteller, der sich auf seine natürliche Quelle verlässt und plötzlich vor dieser Aufgabe steht, fällt das vielleicht nicht so leicht.
Kein Zweifel: Das Leben ist grundsätzlich ungerecht. Aber auch in einer ungerechten Situation besteht die Möglichkeit, ein gewisses Maß an Gerechtigkeit anzustreben. Das erfordert natürlich Zeit und Mühe, und am Ende lohnt es sich vielleicht nicht einmal. Jeder muss selbst entscheiden, ob es sich für ihn lohnt.
Manche Leute sind beeindruckt, wenn ich erzähle, dass ich jeden Tag laufe: »Sie müssen ja einen starken Willen haben.« Natürlich freut mich dieses Lob; es ist jedenfalls besser, als verspottet zu werden. Aber eigentlich glaube ich nicht, dass man einzig durch Willenskraft alles erreichen kann. So einfach geht es nicht zu auf der Welt. Offen gesagt, habe ich sogar den Verdacht, dass zwischen meinem täglichen Lauftraining und meiner – starken oder schwachen – Willenskraft nur ein geringer Zusammenhang besteht, wenn überhaupt einer. Dass ich jetzt seit über zwanzig Jahren laufe, liegt letztlich nur daran, dass diese Art von Bewegung zu mir passt. Oder zumindest keine große Qual für mich bedeutet. Es ist eine typische Eigenschaft des Menschen, Dinge, die ihm gefallen, fortzusetzen, und mit solchen, die ihm nicht behagen, aufzuhören. Die Willenskraft spielt dabei kaum eine Rolle. Ganz gleich, wie willensstark jemand ist und wie sehr er Niederlagen verabscheut, er wird bei keinem Tun lange durchhalten können, wenn es ihm von Grund auf zuwider ist. Und selbst, wenn er es könnte, wäre es nicht gut für ihn.
Darum empfehle ich Freunden nie, ebenfalls zu laufen. Ich sage möglichst nie etwas wie:»Laufen ist einfach wunderbar. Alle sollten es tun.« Wenn jemand Interesse am Langstreckenlauf hat, wird er von selbst damit anfangen, auch wenn man ihn nicht dazu drängt. Hat er keine Lust dazu, ist jede Überredungskunst verschwendet. Der Marathonlauf ist kein Sport für jeden, ebenso wenig wie Schriftsteller ein Beruf für jeden ist. Niemand hat mir je empfohlen, Schriftsteller zu werden, oder mich dazu gedrängt (mir wurde sogar abgeraten). Aber ich selbst hatte den Wunsch, und so wurde ich Schriftsteller. Ebenso wird niemand zum Läufer, nur weil andere ihn dazu auffordern, sondern im Grunde nur, weil er dazu geschaffen ist.
Das soll nicht heißen, dass nicht vielleicht der eine oder andere beim Lesen Lust aufs Laufen bekommt und dann Gefallen daran findet. Das wäre natürlich eine wunderbare Folge, und als Autor dieses Buches würde es mich sehr freuen. Aber jeder Mensch hat seine eigenen Vorlieben und Abneigungen. Einige mögen eben Marathon, andere ziehen Golf vor und wieder andere das Glücksspiel. Wenn ich Schüler sehe, die man zum Langstreckenlauf zwingt, tun sie mir leid. Menschen, die kein Verlangen zu laufen verspüren oder physisch dafür ungeeignet sind, dazu zu zwingen, ist eine sinnlose Folter. Ich möchte den Schulen gern raten, nicht alle Kinder die gleiche Distanz laufen zu lassen, aber natürlich würde niemand auf mich hören. So ist die Schule nun einmal. Das Wichtigste, das wir dort lernen, ist, dass man die wichtigsten Dinge nicht in der Schule lernt.
Doch sosehr mir der Langstreckenlauf auch liegt, es gibt immer Tage, an denen ich träge und schwerfällig bin und keine Lust habe. Eigentlich sogar viele. Dann denke ich mir alle möglichen Ausreden aus, um mich zu drücken. Kurz nachdem der Olympialäufer Toshihiko Seko sich aus dem aktiven Sport zurückgezogen hatte und Trainer des S&B -Teams geworden war, machte ich ein Interview mit ihm, bei dem ich ihn fragte: »Kommt es bei einem Läufer Ihres Niveaus auch vor, dass Sie keine Lust haben und lieber zu Hause im Bett bleiben würden?« Herrn Sekos Gedanken standen ihm
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