Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
schwer. Mehrmals dachte ich daran, aufzugeben und in einen der Sonderbusse zu steigen, die herumfuhren. Meine Zeit würde sowieso katastrophal ausfallen, wäre es da nicht in Ordnung, das Handtuch werfen? Aber das wollte ich dann doch nicht. Ich wollte es schaffen, und wenn ich durchs Ziel kriechen musste.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte ich mich vorwärts, während ein Läufer nach dem anderen an mir vorbeilief. Die Zahlen meiner Digitaluhr rückten erbarmungslos weiter. Der Wind kam vom Meer, und mein schweißdurchtränktes Hemd klebte mir als eiskalter Lappen auf der Haut. Immerhin fand der Lauf mitten im Winter statt, und es war entschieden zu kalt, um in Unterhemd und Shorts eine zugige Straße entlangzuhumpeln. Ich hätte nicht gedacht, dass einem so kalt werden kann, wenn man mit dem Laufen aufhört. Beim Laufen erwärmt sich der Körper so stark, dass man die Kälte nicht spürt. Aber weit mehr als die Kälte schmerzte mich mein verletzter Stolz angesichts meines erbärmlichen Gehumpels. Etwa zwei Kilometer vor dem Ziel ließ der Krampf endlich nach, und ich konnte wieder laufen. Langsam joggend kam ich wieder in Form, und am Ende sprintete ich so schnell ich konnte ins Ziel. Meine Zeit war natürlich dennoch verheerend.
Die Gründe für mein Versagen lagen auf der Hand: Nicht genug Training, nicht genug Training und nicht genug Training. Damit ist alles gesagt. Ich hatte nicht genug Kondition aufgebaut und nicht genug Gewicht verloren. Ohne es zu merken, war ich wohl so arrogant geworden zu glauben, ich könne die 42 Kilometer auch ohne große Vorbereitungen meistern. Die Wand, die gesundes von ungesundem Selbstbewusstsein trennt, ist ziemlich dünn. Als ich jung war, hätte ich einen Marathon vielleicht auf diese Weise geschafft. Meine Kraft hätte auch ohne hartes Training für eine einigermaßen gute Zeit ausgereicht. Aber leider bin ich eben nicht mehr jung. Ich erreiche allmählich das Alter, in dem man nur etwas bekommt, wenn man auch dafür bezahlt hat.
Damals verspürte ich vor allem den inbrünstigen Vorsatz, ein solches Fiasko kein zweites Mal zu erleben. So zu frieren und sich so elend zu fühlen – nein, danke. Jedenfalls nahm ich mir fest vor, vor meinem nächsten Marathon wieder zu meinen Anfängen zurückzukehren, bei null zu beginnen und alles wettzumachen. Ich würde ausgiebig trainieren und herausfinden, wie weit meine körperlichen Fähigkeiten in Wirklichkeit reichen. Alle losen Schrauben einzeln wieder festziehen. Und sehen, was dabei herauskommt. Das waren meine Gedanken, während ich, von Scharen anderer Läufer überholt, mein verkrampftes Bein in der Kälte hinter mir herzog.
Eingangs sagte ich, ich sei kein Mensch, der ungern verliert. Manchmal lässt es sich auch schwer vermeiden. Niemand gewinnt immer und ewig. Auf der Straße des Lebens kann man nicht immer auf der Überholspur sein. Aber immer wieder die gleichen Fehler will man auch nicht machen. Am besten ist es, man lernt aus ihnen und wendet das Gelernte bei nächster Gelegenheit an. So will ich leben – zumindest solange meine Fähigkeiten es mir gestatten.
Deshalb sitze ich auch am Tisch und schreibe diese Seiten, während ich für den »nächsten Marathon«, den New York City Marathon, trainiere. Nacheinander fallen mir Dinge ein, die sich vor zwanzig Jahren ereigneten, als ich mit dem Laufen anfing. Um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, lese ich in meinen Notizen (ich schaffe es nie, über längere Zeit Tagebuch zu führen, aber mein Läufertagebuch habe ich immer gewissenhaft geführt) und arbeite sie in diesen Aufsatz um. Das hilft mir, meinen Weg nachzuvollziehen. Zugleich fördere ich Gefühle zutage, die ich damals hatte. Ich tue es, um mich zu ermahnen und zu ermutigen. Und auch um Impulse zu wecken, die irgendwann eingeschlafen sind. Kurz gesagt, ich schreibe diesen Text, um meine Gedanken zu ordnen. Und am Ende – es geht immer um das Ergebnis – entstehen vielleicht »Memoiren« daraus, Erinnerungen, die sich um das Laufen drehen.
Das soll nicht heißen, dass ich mit dem Gedanken an eine Autobiographie spiele. Weit mehr beschäftigt mich die konkrete Frage, wie ich in zwei Monaten den New York City Marathon in einer anständigen Zeit laufen kann. Die wichtigste Aufgabe, die vor mir liegt, ist die, mich körperlich dafür fit zu machen.
Am 25. August besuchte mich ein junger, enthusiastischer Fotograf von der amerikanischen Zeitschrift Runners’ World . Er hieß Greg und war eigens
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