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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zunehmendem Alter habe ich mich ganz von selbst damit arrangiert. Es ist, wie wenn man den Kühlschrank öffnet und sich (mit einigem Geschick) aus dem, was da ist, ein ganz passables Essen macht. Man beschwert sich nicht, obwohl nur Käse, Zwiebeln und getrocknete Pflaumen vorhanden sind. Man kommt damit aus und ist dankbar, dass überhaupt etwas da ist. Diese Denkweise ist einer der wenigen Vorzüge des Älterwerdens.
    Seit längerem laufe ich wieder in Tokyo. Im September ist es noch immer sehr heiß. Die über der Stadt liegende letzte Sommerhitze hat etwas Besonderes. Der Schweiß rinnt mir aus allen Poren, während ich stumm durch die Straßen trabe. Selbst meine Mütze wird immer nasser. Der Schweiß spritzt mir nur so vom Körper. Die Tropfen werfen deutliche Schatten auf den Boden. Sie fallen aufs Pflaster und sind bereits im nächsten Augenblick verdunstet.
    Überall auf der Welt haben die Mienen der Langstreckenläufer eine gewisse Ähnlichkeit. Alle scheinen über etwas nachzudenken. Vielleicht denken sie ja auch an gar nichts und sehen nur so versunken aus. Es ist bewundernswert, dass sie in dieser Hitze laufen – andererseits tue ich es ja auch.
    Eine Frau, an der ich auf dem Jingu-gaien-Pfad vorbeilaufe, ruft mir nach. Sie ist eine Leserin. Das kommt selten vor, aber mitunter doch. Ich bleibe stehen und unterhalte mich kurz mit ihr.
    »Ich habe in den letzten zwanzig Jahren alle Ihre Bücher gelesen«, sagt sie. Sie hat als älterer Teenager damit angefangen und ist nun Ende dreißig. Ich bedanke mich bei ihr. Wir lächeln und verabschieden uns mit Handschlag. Meine Hand war sicherlich ganz schön verschwitzt. Ich fange wieder an zu laufen, und auch sie macht sich wieder auf den Weg, wer weiß wohin. Ich laufe weiter meinem Ziel entgegen. Welchem Ziel? New York natürlich.

5
    3. OKTOBER 2005
CAMBRIDGE, MASSACHUSETTS
    SELBST WENN ICH DAMALS EINEN LANGEN PFERDESCHWANZ GEHABT HÄTTE
    In der Gegend von Boston gibt es im Sommer immer ein paar Tage, die derart unangenehm sind, dass man am liebsten alles verfluchen würde. Aber wenn man die hinter sich hat, ist das Klima nicht übel. Die Wohlhabenden entfliehen der Hitze nach Vermont oder Cape Cod, weshalb die Stadt angenehm leer wirkt. Die Bäume, die die Wege am Fluss säumen, spenden großzügig ihren kühlenden Schatten, und auf dem glitzernden Wasser trainieren immer Studenten aus Harvard und Boston für eine Regatta. Mädchen liegen in knappen Bikinis auf ihren Handtüchern auf dem Rasen und sonnen sich, während sie Musik aus ihrem Walkman oder iPod hören. Ein Eiswagen kommt und eröffnet den Verkauf. Jemand spielt einen alten Song von Neil Young auf der Gitarre und singt. Ein langhaariger Hund jagt selbstvergessen einer Frisbeescheibe nach. Ein rotbraunes Saab-Kabriolet fährt windschnittig die nachmittägliche Uferstraße entlang. Der Mann darin ist (möglicherweise) Psychiater und Demokrat.
    Doch schon bald wird dieses Wetter dem schönen kurzen Herbst weichen, der so typisch für Neuengland ist. Das überwältigende tiefe Grün, das uns noch umgibt, wird ganz allmählich in ein warmes Goldgelb übergehen. Und wenn ich beim Laufen Trainingshosen über meinen Shorts tragen muss, wirbeln dürre Blätter durch die Luft und Eicheln schlagen mit einem harten, trockenen Ton auf dem Boden auf. Die Eichhörnchen haben nun einen anderen Blick und rennen emsig umher, um Wintervorräte zu sammeln.
    Nach Halloween stellt sich zuverlässig und wortkarg wie ein gewissenhafter Steuereintreiber der Winter ein. Ehe man sich versieht, sind die Regattaboote verschwunden, und der Fluss ist von einer dicken Eisschicht bedeckt. Wenn man wollte, könnte man ihn zu Fuß überqueren. Die Bäume haben keine Blätter mehr, und die trockenen Zweige schlagen im Wind gegeneinander und klappern wie dürre Knochen. Hoch oben sieht man die Nester der Eichhörnchen, die wohl in tiefem Schlaf liegen und träumen. Von Norden aus Kanada kommen die schönen Wildgänse in Scharen (genau, im Norden ist es ja noch viel kälter). Sie sind nicht einmal scheu. Der Wind, der über den Fluss weht, ist kalt und scharf wie ein frisch geschliffenes Hackmesser. Die Tage werden immer kürzer und die Wolken immer dichter.
    Wir tragen Handschuhe, Wollmützen bis über die Ohren und Gesichtsmasken. Dennoch sind die Fingerspitzen kalt, und die Ohren schmerzen. Wenn es nur der kalte Wind wäre, ginge es ja. Den kann man irgendwie ertragen, wenn man es sich vornimmt. Das Fatale sind die großen

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