Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Stürme. Schneeverwehungen frieren in der Nacht zu riesigen glatten Eisklumpen, und die Straßen vereisen. Dann geben wir das Laufen auf und trainieren im Hallenbad, an diesen öden Spinning-Rädern oder auf Laufbändern. Und warten auf den Frühling.
Der Fluss, von dem ich spreche, ist der Charles River. Alle kommen hierher, und jeder vergnügt sich nach seiner Fasson. Man geht spazieren, führt den Hund aus, fährt Rad, joggt oder rast auf Inlinern herum (ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was an diesem scheußlichen Sport Spaß machen soll). Das Flussufer zieht die Menschen wie magnetisch an.
Anscheinend ist es für den Menschen wichtig, in seinem Alltag große Mengen Wasser zu sehen. »Für den Menschen« klingt vielleicht etwas aufgeblasen; immerhin weiß ich, dass es für eine Person wichtig ist: mich. Wenn ich längere Zeit kein Wasser sehe, stellt sich bei mir langsam ein Gefühl von Mangel, von Ausgelaugtheit ein. Es ähnelt vielleicht dem, was ein Musikliebhaber empfindet, wenn er gezwungen ist, Musik über einen längeren Zeitraum zu entbehren. Vielleicht kommt es daher, dass ich am Meer aufgewachsen bin.
Die Wasseroberfläche ist jeden Tag anders – die Farbe, die Gestalt der Wellen, die Geschwindigkeit der Strömung. Mit jeder Jahreszeit verwandeln sich die Pflanzen und auch die Tiere am Fluss. Wolken in allen Formen ziehen darüber hinweg, und das von der Sonne beschienene Wasser spiegelt den Zug der weißen Gebilde bald klar, bald verschwommen wider. Je nach Jahreszeit kann der Wind sich wie auf Knopfdruck ändern. An seinem Geruch und auf der Haut ist jede kleine Änderung in der Jahreszeit deutlich spürbar. An diesem Fluss erkenne ich, dass ich nicht mehr bin als ein Steinchen im gewaltigen Mosaik der Natur. Wie das Wasser des Flusses bin ich ein austauschbarer Teil einer Naturerscheinung, die unter den Brücken hindurch auf das Meer zufließt.
Endlich schmilzt im März der Schnee, und wenn nach dem Tauwetter auch der eklige Matsch getrocknet ist und die Leute ohne ihre dicken Mäntel am Charles River spazieren gehen (wenig später im Mai blühen am Ufer die Kirschbäume), stellt sich ein bestimmtes Gefühl ein: Der Boston-Marathon ist nicht mehr fern.
Doch nun hat gerade erst der Oktober begonnen. In einem ärmellosen Trikot ist es mir nun schon etwas zu kühl, aber für ein langärmliges Hemd ist es noch zu früh. Bis zum Marathon in New York bleibt nur noch etwas über einen Monat. Allmählich muss ich die Kilometer herunterschrauben und die angestaute Erschöpfung loswerden. Es ist an der Zeit, stufenweise zurückzuschalten, »tapering off« nennen sie das auf Englisch. Ganz gleich, wie weit ich jetzt noch laufe, es wird mir im Wettkampf nichts mehr nützen, eher sogar hinderlich sein.
Das in meinem Lauftagebuch festgehaltene Trainingsprogramm ist nicht schlecht, finde ich:
Juni: 260 Kilometer
Juli: 310
August: 350
September: 300
Die Entfernungen bilden eine hübsche Pyramide. In Wochen umgerechnet sind es 60, 70, dann 80 und wieder 70 Kilometer. Im Oktober werde ich wohl wie im Juni etwa 60 Kilometer pro Woche laufen.
Neue Laufschuhe von Mizuno habe ich mir auch gekauft. Ich hatte in Cambridge bei City Sports alle möglichen Modelle anprobiert, aber am Ende entschied ich mich wieder für die gleichen von Mizuno, die ich schon hatte. Sie sind leicht, und die Innensohle ist etwas fest. Daher sind sie wie immer am Anfang nicht ganz so bequem. Aber mir gefällt die selbstverständliche Gediegenheit und Zuverlässigkeit der Schuhe dieses Herstellers, der auf Schnickschnack verzichtet. Natürlich ist das nur mein persönlicher Eindruck. Jeder hat seine eigenen Vorlieben. Ich hatte einmal Gelegenheit, mit einem Vertreter von Mizuno zu sprechen. »Unsere Schuhe sind sehr schlicht und fallen nicht auf. Wir setzen auf Qualität, aber äußerlich betrachtet sind sie natürlich nicht so hübsch«, gab er zu. Ich verstand genau, was er meinte. Sie haben nicht den allerneusten Schnickschnack, sind nicht modisch aktuell, und einen witzigen Werbeslogan gibt es auch nicht. Daher sind sie für den durchschnittlichen Verbraucher nicht sonderlich attraktiv (vielleicht könnte man sagen, sie haben ein ähnliches Image wie bei Autos der Subaru). Aber ihre Sohlen sind solide und haben eine gute Oberflächenhaftung. Meiner Erfahrung nach sind sie auch nach 42 Kilometern noch zuverlässige Partner. Da die Qualität bei Laufschuhen in letzter Zeit sehr gestiegen ist, unterscheiden sich von einer bestimmten
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