Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Preisklasse an die Modelle verschiedener Hersteller kaum mehr. Dennoch sind für einen Läufer auch kleine Unterschiede spürbar, und man ist immer auf der Suche nach diesem leichten psychologischen Vorteil. Bis zum Marathon ist es noch ein Monat, und ich werde die neuen Schuhe langsam einlaufen.
Die Erschöpfung nach all den Monaten intensiven Trainings hält weiter an, und ich bin nicht sehr schnell. Wenn ich morgens in meinem Tempo am Charles River entlanglaufe, überholen mich immer wieder junge Mädchen, dem Anschein nach Studienanfängerinnen von Harvard. Die meisten von ihnen sind klein und sehr schlank, tragen Shirts mit dem braunen Wappen von Harvard und blonde Pferdeschwänze. Sie laufen wie der Wind und hören dabei Musik auf nagelneuen iPods. Ich spüre etwas Aggressives und Herausforderndes an ihnen. Sie scheinen daran gewöhnt zu sein, andere zu überholen, eher jedenfalls, als überholt zu werden. Sie sind so hübsch, gesund, bezaubernd und voller Selbstbewusstsein. Die meisten sehen nicht wie Langstreckenläuferinnen aus, sondern als seien sie eher für mittlere Distanzen geeignet. Ihre Schritte sind lang, und sie werfen die Waden scharf und kräftig hoch. Es entspricht eher ihrem Charakter, lässig umherzulaufen und die Landschaft zu betrachten.
Ich will mich nicht loben, aber im Vergleich zu ihnen habe ich sicher mehr Erfahrung mit Niederlagen. Es gibt einen ganzen Berg von Dingen, die außerhalb meiner Reichweite liegen, und jede Menge Gegner, die ich nie bezwingen werde. Aber diese Mädchen ahnen von solchen Leiden gewiss nicht viel. Andererseits müssen sie das ja auch nicht. Das sind meine Gedanken beim Anblick ihrer stolz schwingenden Pferdeschwänze und schlanken, kampfeslustigen Beine. In meinem eigenen Rhythmus laufe ich gemächlich weiter am Fluss entlang.
Hat es in meinem Leben auch solche strahlend heiteren Tage gegeben? Ja, wahrscheinlich ein paar. Aber selbst wenn ich damals einen langen Pferdeschwanz gehabt hätte, hätte er sicher nicht so stolz geschwungen. Und meine Beine wären nicht so kraftvoll ausgeschritten wie die dieser Mädchen. Aber das ist wohl auch ganz natürlich. Immerhin sind sie blitzblanke neue Studentinnen der weltbesten Universität.
Dennoch macht es mir Freude, diesen hübschen Mädchen beim Laufen zuzusehen. Sie bestärken mich in dem beruhigenden Gefühl, dass auf der Welt eine Generation zwangsläufig die andere ablöst und auf diese Weise alles weitergegeben wird. Deshalb macht es mir auch nicht so viel aus, wenn die Mädchen mich hinter sich lassen. Sie haben ihr eigenes Tempo und ihr eigenes Zeitgefühl. Und auch ich habe meinen persönlichen Rhythmus und meine eigene Zeit. Sie sind völlig verschieden von mir, und genauso soll es sein.
Bei meinem morgendlichen Lauf am Fluss begegne ich häufig denselben Leuten. Zum Beispiel einer zierlichen Inderin, die alleine spazieren geht. Sie ist vermutlich um die sechzig, hat vornehme Gesichtszüge und ist stets tadellos gekleidet. Das Wundersame an ihr – oder vielleicht ist es auch gar nicht so wundersam – ist, dass sie jeden Tag etwas anderes anhat. Einmal trägt sie einen eleganten Sari, dann wieder ein übergroßes Sweat-Shirt mit dem Emblem einer Universität. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, habe ich sie nie im selben Outfit gesehen. Die spannende Frage, wie sie gekleidet sein wird, gehört inzwischen zu meinen kleinen Freuden beim allmorgendlichen Training.
Dann ist da noch ein Mann, der eine große schwarze Vorrichtung an seinem rechten Bein trägt und in schnellem Tempo spazieren geht. Er ist groß, ein Weißer. Wahrscheinlich hat er eine schwere Verletzung erlitten. Soweit ich mich erinnere, trägt er diese schwarze Klammer seit vier Monaten. Was nur mit seinem Bein passiert ist? Jedenfalls ist er dadurch nicht langsam, er hat einen schnellen Schritt. Er trägt große Kopfhörer, während er stumm am Ufer entlangeilt.
Gestern hörte ich beim Laufen Beggar’s Banquet von den Rolling Stones. Dieser Hu-Hu-Chor in »Sympathy for the Devil« ist richtig fetzig. Die ideale Begleitung beim Laufen. Tags zuvor hatte ich Reptile von Eric Clapton aufgelegt. Ich mag diese Alben sehr. Sie haben etwas an sich, das mich berührt, und ich werde nie müde, sie zu hören. Besonders Reptile habe ich schon unzählige Male beim Laufen gehört. Meiner persönlichen Meinung nach ist es das beste Album für einen lockeren Lauf am Morgen. Es ist weder zu hämmernd noch zu kompliziert. Es hat einen festen
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