Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
denen ich mich freue und die ich schätze, drücken sich nicht in Zahlen aus. Und ich werde mich nach einem Stolz umsehen, der sich aus einer etwas anderen Quelle speist als der bisherige.
Ich bin weder ein unbekümmerter junger Mann auf der Jagd nach Rekorden noch eine leblose Maschine. Ich bin nur ein (wahrscheinlich ziemlich ehrlicher) Schriftsteller, der seine Grenzen kennt, aber seine Vitalität und seine Fähigkeiten so lange wie möglich erhalten will.
Noch einen Monat bis zum New York City Marathon.
7
30. OKTOBER 2005
CAMBRIDGE, MASSACHUSETTS
HERBST IN NEW YORK
Wie aus Kummer über die Niederlage der Red Sox in den Ausscheidungsspielen (sie gewannen nicht eine einzige Partie in einem Sox-Turnier gegen die Chicago White Sox) fiel über zehn Tage lang ein kalter Regen auf Neuengland. Es wurde Herbst. Mitunter regnete es stark, dann wieder weniger, manchmal hörte der Regen ganz auf, als hätte er sich an etwas erinnert, aber nie klarte es auf. Der ganze Himmel war von den dicken grauen Wolken bedeckt, die typisch für diese Gegend sind. Wie ein Mensch, der sich nicht entscheiden kann, zögerte der Regen lange, bis er sich am Ende doch zu starken Güssen entschloss. Viele Städte von New Hampshire bis Massachusetts erlitten Flutschäden, und der Highway war an vielen Stellen unterbrochen. (Natürlich liegt es nicht in meiner Absicht, für all das die Red Sox verantwortlich zu machen.) Ich hatte damals etwas an einer Universität in Maine zu tun und fuhr in Neuenglands Norden, aber alles, was mir von der Fahrt noch in Erinnerung geblieben ist, ist dunkles Regenwetter von Anfang bis Ende. Außer im tiefsten Winter sind Reisen durch diese Region höchst erfreulich, diesmal jedoch war es leider nicht so. Es war zu spät für den Sommer und zu früh für das bunte Herbstlaub. Es goss in Strömen, und zu allem Überfluss funktionierte der Scheibenwischer meines Mietwagens nicht richtig. Völlig erledigt traf ich spätabends in Cambridge ein.
Am Sonntag, den 9. Oktober nahm ich an einem frühmorgendlichen Lauf teil, aber auch an diesem Tag regnete es. Es war der halbe Marathon, der immer um diese Jahreszeit von der Boston Athletic Association veranstaltet wird, die auch den Frühjahrsmarathon organisiert. Der Start ist am Roberto-Clementi-Stadion in der Nähe des Fenway Park, dann führt die Strecke am Jamaica Point vorbei, schlängelt sich durch den Franklin Zoo und endet wieder am Start. In diesem Jahr waren es 4500 Teilnehmer.
Ich nahm zur Vorbereitung auf den New York City Marathon daran teil. Deshalb lief ich nur mit halber Kraft und zeigte erst auf den letzten drei Kilometern Kampfgeist. Es ist gar nicht so leicht, nicht voll aufzudrehen und einen »gemäßigten« Stil zu laufen. Die anderen Läufer stellen einen Ansporn dar, die ganze Kraft einzusetzen, auch wenn man es gar nicht wollte. Gemeinsam auf »Los!« zu laufen macht Spaß, und ehe man sich versieht, erwacht der Kampfgeist. Aber dort beherrschte ich ihn und blieb ganz kühl. Ich musste meine Kräfte sparen, denn ich wollte sie mit ins Flugzeug nach New York nehmen.
Mein Ergebnis lautete 1 Stunde 55 Minuten, eine Zeit, mit der ich ungefähr gerechnet hatte. Auf den letzten Kilometern beschleunigte ich etwas, überholte etwa hundert Läufer und hatte mich noch nicht völlig verausgabt, als ich über die Ziellinie ging. Es war ein kalter Sonntag, an dem von morgens bis abends ein dunstiger Nieselregen niederging. Doch als ich, eine Nummer auf dem Rücken und den Atem der anderen Läufer im Ohr, die Straße entlanglief, wurde mir klar, dass die Laufsaison begonnen hatte. Adrenalin durchströmte jeden Winkel meines Körpers. Da ich die ganze Zeit immer stumm für mich alleine gelaufen war, gab mir dieses gemeinschaftliche Erlebnis einen Ansporn. Bei offiziellen Läufen bekomme ich meist ein Gefühl für das Tempo, das ich in der ersten Hälfte halten muss. Was im zweiten Teil passiert, weiß ich natürlich nicht, das sehe ich erst, wenn es so weit ist.
Beim Training laufe ich meistens einen halben Marathon und auch weiter, daher kam das Ende für mich recht schnell. War das schon alles? Wäre ich allerdings schon nach einem halben Marathon erschöpft, wäre ein ganzer wahrscheinlich die Hölle. Der Großteil der anderen Läufer waren Weiße. Es waren besonders viele Frauen dabei. Aus irgendeinem Grund gab es kaum Teilnehmer, die einer Minderheit angehörten.
Der Regen dauerte mit Unterbrechungen an. Währenddessen musste ich aus beruflichen
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