Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
werden. Der Vorarbeiter David (ein junger Schweizer) hatte mir bereits mit düsterem Gesicht verkündet, dass sie die Reparatur nur durchführen könnten, wenn drei Tage hintereinander die Sonne scheine, und nun tat sie uns den Gefallen. Wir brauchten keine Angst mehr zu haben, dass es hineinregnen würde. Auch der Boiler ist repariert, und es gibt heißes Wasser. Endlich kann ich wieder heiß duschen. Auch der Keller, den wir wegen der Arbeiten am Boiler nicht betreten konnten, ist wieder zugänglich, und wir können die Waschmaschine und den Trockner benutzen. Ab morgen soll auch die Zentralheizung in Betrieb genommen werden. Es waren schreckliche Tage, aber allmählich wendet sich alles zum Besseren, einschließlich meines Knies.
27. Oktober. Heute konnte ich endlich mit etwa achtzig Prozent Kraft laufen, ohne dass sich mein Knie seltsam anfühlte. Gestern habe ich noch etwas gespürt, aber heute Morgen konnte ich laufen wie immer. Ich lief nur etwa fünfzig Minuten, die letzten zehn steigerte ich das Tempo. Ich malte mir aus, wie ich in den Central Park einlaufe und mich der Ziellinie nähere. Dabei rannte ich in der Geschwindigkeit, die ich beim New York Marathon anpeilen werde. Nicht das geringste Problem. Meine Füße trafen fest auf dem Pflaster auf, die Knie ließen sich ohne Widerstand durchdrücken. Die Gefahr war vorüber – vielleicht.
Es ist sehr kalt geworden, und überall in der Stadt sieht man Halloween-Kürbisse. Morgens liegt der Weg am Fluss voller bunter Blätter. Handschuhe sind bereits absolut notwendig, wenn man frühmorgens läuft.
29. Oktober. Nur noch eine Woche bis zum Marathon. Am Morgen fielen ein paar leichte Flocken, und am Nachmittag schneite es dann richtig. Dabei ist der Sommer noch gar nicht so lange vorbei, dachte ich verwundert. Dieses Wetter ist typisch für Neuengland. Durch das Fenster meines Büros auf dem Campus beobachtete ich die feuchten Flocken. Mein körperlicher Zustand ist nicht schlecht. Wenn ich zu erschöpft vom Trainieren bin, werden meine Beine schwer und ich fange an schleppend zu laufen, aber in letzter Zeit fühle ich mich beim Start ganz leicht. Ich habe den Eindruck, dass die Müdigkeit aus meinen Beinen verschwunden ist und ich sogar Lust verspüre, mehr zu laufen.
Aber ganz hat mich die Unsicherheit nicht verlassen. War der dunkle Schatten, der für einen Moment vor mir aufgetaucht war, wirklich verschwunden? Oder lauerte er noch in mir, bereit, sich bei der nächsten Gelegenheit auf mich zu stürzen? Wie ein schlauer Dieb, der sich irgendwo im Haus versteckt hält und mit angehaltenem Atem abwartet, bis die Bewohner schlafen. Ich versuchte, tief in mein Inneres zu schauen, um etwas zu erspähen, was vielleicht dort lauerte. Doch wie das Bewusstsein ist auch der Körper ein Labyrinth. Überall herrscht Dunkel, und überall sind tote Winkel. Überall gibt es stumme Hinweise, überall lauern Überraschungen.
Meine einzige Handhabe sind Erfahrung und Instinkt. Die Erfahrung hat mich Folgendes gelehrt:»Du hast getan, was du konntest. Jetzt hat es keinen Zweck mehr, darüber nachzudenken. Du kannst nur noch abwarten, was auf dich zukommt.« Mein Instinkt sagt mir nur eins: »Stell es dir vor.« Ich schließe die Augen und sehe vor mir, wie ich mit Tausenden anderer Läufer durch Brooklyn, durch Harlem bis Midtown durch New York laufe. Wie ich mehrere riesige eiserne Hängebrücken überquere. Ich erlebe, wie ich das Gedränge im Central Park durchquere und mich der Ziellinie nähere. Ich sehe das altmodische Steakhouse in der Nähe unseres Hotels vor mir, in dem wir nach dem Lauf essen werden. Diese Szenen bescheren meinem Körper eine ruhige Vitalität. Ich gebe es auf, auf die Schattierungen von Dunkelheit zu starren. Und auf Töne in der Stille zu lauschen.
Ich bekomme eine E-Mail von Liz, die sich bei Random House um meine Bücher kümmert. Auch sie wird den New York City Marathon mitlaufen. Es ist ihr erster Marathon. »Have a good time!«, maile ich zurück. So ist es, der Sinn eines Marathons besteht darin, Freude daran zu haben. Warum sonst sollten Zehntausende von Menschen 42 Kilometer am Stück laufen?
Ich vergewissere mich noch einmal, ob unser Zimmer in einem bestimmten Hotel am Central Park South reserviert ist, und kaufe die Tickets für den Flug von Boston nach New York. Meine gewohnte Laufkleidung und die inzwischen gut eingelaufenen Schuhe packe ich in einen Sportrucksack. Nun brauche ich nur noch in aller Ruhe auf den Tag zu warten
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