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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sagt er. »Hier sind Sie mit Ihrem Schatz.«
    Das ist kein Wort, das Agnes je als Bezeichnung für ein Kind gehört hat. Er scheint mit ihr zu reden wie mit jemandem aus seinem eigenen Bekanntenkreis, wie mit einer Dame, nicht wie ein Arzt mit einer Patientin. Ein solches Verhalten bringt sie in Verlegenheit, und sie weiß nicht, was sie antworten soll.
    »Ihrer Kleinen geht es gut?«, fragt er in einem schlichteren Anlauf. Er ist vom Tanzen immer noch außer Atem, und sein Gesicht ist zwar nicht gerötet, aber dünn mit Schweiß bedeckt.
    »Ja.«
    »Und Sie selbst? Sind Sie wieder bei Kräften?«
    Sie zuckt ganz leicht mit den Achseln, um das Kind nicht von der Brust abzuschütteln.
    »Sie haben jedenfalls eine schöne Farbe, das ist ein gutes Zeichen.«
    Sie meint, ihn bei diesen Worten seufzen zu hören, und überlegt, ob das sein mag, weil seine eigene Farbe im Morgenlicht so kränklich aussieht wie Molke.
    Dann fragt er sie, ob sie ihm wohl gestattet, Platz zu nehmen und sich ein wenig mit ihr zu unterhalten, und wieder stürzt seine Förmlichkeit sie in Verlegenheit, doch sie sagt, er möge tun, wie ihm beliebt.
    Ihr Schwiegervater wirft dem Wundarzt – und auch ihr – einen verächtlichen Blick zu, aber das merkt Mr Suter nicht, vielleicht begreift er nicht einmal, dass der alte Mann und der blonde kleine Junge, der kerzengerade dasitzt und zu dem Alten hochschaut, etwas mit ihr zu tun haben.
    »Es wird sehr lebhaft getanzt«, sagt er. »Und man wird von aller Welt herumgezerrt.« Und dann fragt er: »Was werden Sie in Westkanada tun?«
    Eine sehr dumme Frage, will ihr scheinen. Sie schüttelt den Kopf – was soll sie sagen? Sie wird waschen und nähen und nahezu gewiss weitere Kinder nähren. Wo das sein wird, ist ohne Belang. Jedenfalls in einem Haus, und keinem prächtigen.
    Sie weiß jetzt, dass dieser Mann Gefallen an ihr findet. Sie erinnert sich an seine Finger auf ihrer Haut. Aber was kann einer Frau mit einem Säugling an der Brust schon Böses widerfahren?
    Sie verspürt eine Regung, freundlich zu ihm zu sein.
    »Was werden Sie tun?«, fragt sie.
    Er lächelt und sagt, dass er vermutlich weiterhin das tun wird, wozu er ausgebildet worden ist, und dass die Menschen in Amerika – soweit er gehört hat – ebenso der Ärzte bedürfen wie alle anderen Menschen auf der Welt.
    »Aber ich habe nicht vor, mich in einer Stadt fest niederzulassen. Ich möchte mindestens bis an den Fluss Mississippi gelangen. Alles Land jenseits des Mississippi gehörte früher zu Frankreich, wissen Sie, aber jetzt gehört es zu Amerika und liegt weit offen, alle können dorthin, nur dass man da vielleicht den Indianern begegnet. Aber dagegen hätte ich auch nichts. Wo es Kämpfe mit den Indianern gibt, werden umso mehr Wundärzte gebraucht.«
    Sie weiß nichts über diesen Fluss Mississippi, aber sie weiß, er sieht wahrhaftig nicht sehr kämpferisch aus – er sieht nicht so aus, als könnte er sich in einem Streit mit den rauflustigen Burschen von Hawick zur Wehr setzen, geschweige denn gegen Rothäute.
    Zwei Tänzer wirbeln so dicht an ihnen vorbei, dass sie ihnen Wind ins Gesicht wehen. Es ist ein junges Mädchen, eigentlich noch ein Kind, dessen Röcke sich bauschen – und wer anders tanzt mit ihr als Agnes’ Schwager Walter? Walter macht eine alberne Verbeugung vor Agnes und dem Wundarzt und seinem Vater, und das Mädchen stupst ihn und dreht ihn um, und er lacht ihr zu. Sie ist fein angezogen wie eine junge Dame, mit Schleifen im Haar. Ihr Gesicht leuchtet vor Vergnügen, ihre Wangen glänzen wie Laternen, und sie behandelt Walter mit großer Vertrautheit, als sei er ihr riesiges Spielzeug.
    »Der Junge ist ein Freund von Ihnen?«, fragt Mr Suter.
    »Nein. Er ist der Bruder meines Mannes.«
    Die junge Dame kann sich vor Lachen nicht mehr halten, nachdem sie und Walter – durch ihre Unachtsamkeit – fast ein anderes Paar beim Tanzen umgestoßen haben. Sie kann nicht mehr stehen vor Lachen, und Walter muss sie stützen. Dann wird deutlich, dass sie nicht lacht, sondern einen Hustenanfall hat, und jedes Mal, wenn der Anfall sich zu legen scheint, lacht sie und setzt ihn wieder in Gang. Walter hält sie an sich und trägt sie halb zur Reling.
    »Das ist ein Mädchen, das nie ein Kind an der Brust haben wird«, sagt Mr Suter, wobei sein Blick kurz das trinkende Kind streift, bevor er wieder auf dem Mädchen ruht. »Ich bezweifle, dass sie lange genug leben wird, um viel von Amerika zu sehen. Hat sie

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