Wünsche
Mercedes von Mutter Martha Richtung Meer. Vera trägt auf der Reise in den Süden ein altes weißes Männerhemd aus Baumwolle, und alle haben sie in dem Sommer noch gewusst, dass es schöner ist, jemanden zu lieben als niemanden zu lieben. Meret sitzt hinten, Vera vorn. Friedrich redet. Wenn er sie von der Seite anschaut, bildet er sich ein, die Schönheit auf ihrem Gesicht mit seinen Worten hervorgehaucht zu haben. Liebe, was soll das denn sein?, fragt Meret auf einmal. Du kannst aussuchen, Schwesterchen, es ist ein starkes Gefühl des Hingezogenseins oder die Erfindung mittelalterlicher Dichter. Liebe ist eine moderne Erfindung, eine Illusion, ein zivilisierter Aspekt von Sex oder eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit.
Stopp, stopp, ruft Meret, und Vera dreht sich zu ihr um. Sie schaut zwischen der Freundin und Friedrich hin und her. Wovor habt ihr eigentlich Angst, ihr zwei?, fragt sie.
Das erste Stück der Strecke fahren sie die belgische Küste entlang, vorbei an lauter Hochhausruinen, halb toten Städtchen und stillgelegten Zementwerken. Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück, ist euch das auch klar?, seufzt Meret. In Südfrankreich angekommen, setzen sie für einige Tage nach Nordafrika über. Halb Nordafrika ist hinter Vera her, aber Meret, die wie ein offenes Messer herumläuft, hat am Ende des Ausflugs mit halb Nordafrika geschlafen. Eines Nachts, als sie alle drei tief, tief auf dem Boden einer vierten Weinflasche angekommen sind und am Strand schlafen, kriecht Friedrich zu Vera in den Schlafsack. Oder ist er in den Schlafsack nebenan gekrochen, ohne sich zu vergewissern, wer darinliegt? Auf jeden Fall drücken sich zwei in jener Strandnacht unter dem hohen, sternenfunkelnden Himmel wie die kleinen Wölfe aneinander, und der dritte liegt allein. Morgens sammeln sie Tempotücher ein, die um ihre Schlafstelle auf dem Sand verstreut liegen.
Wer hat geweint?
Und wenn ja, warum? Was ist eigentlich passiert?
Haben wir?
Nein.
Doch, wir haben?
Ja, aber nur kurz.
Meret
1.
Merets Augen wanderten den Kondensstreifen am blauen Herbsthimmel entlang, den ein Flugzeug im Fensterrahmen gezogen hatte. So hatte sich das Warten als Kind angefühlt. Ein Innehalten, das ihr nie nutzlos vorgekommen war, sondern wie ein langsames Verstehen. Oder wie ein Verstehen, das sich auf angenehme Weise vertagt.
Während der Streifen am Himmel ausflockte, kam ihr eine Idee für die Herbstmodenschau: Ein Kleid aus Seidentüll würde es sein oder besser noch eins aus Seidenchiffon, weil der besser fällt als Tüll. Ein Hauch von einem Kleid würde es sein, mit freien Schultern und märchenhaft schön. Zwei duftige Bahnen Stoff würden aus einer Naht zwischen den Schulterblättern wie Schwingen wachsen und an den Händen mit Fingerringen fixiert werden. Die Schwingen würden die Frau in dem Kleid zum Engel und die bloßen Schultern würden sie wieder zur Frau machen. Gelernt ist gelernt. Falling slowly / Eyes that know me / And I can’t go back / Moods that take me / And erase me / And I’m painted black . Meret hatte angefangen zu singen, das gleiche Lied, das sie gestern auf Friedrichs Geburtstag sehr spät noch ins Mikrofon gehaucht hatte, und sie drehte sich im Bett, das nicht ihres war, auf die andere Seite. Es war das Schlafzimmer ihrer Großmutter Eugenie, und das angrenzende Bad hatte die gleiche Farbe wie die Außenfassade der Villa. Rosa.
Take this sinking boat and point it home / We’ve still got time .
Von fern mischte sich ein regelmäßiger Regen in ihren Gesang, mal lauter, wenn das Wasser wohl auf Büsche traf, mal leiser, wenn es über Gras streifte. Wer hatte denn da den Rasensprenger angestellt um diese Zeit im Jahr? Niemand, erinnerte Meret sich. Sie selber hatte nur vergessen, die Zeitschaltuhr, die im Sommer die Bewässerung regelte, rechtzeitig aus der Steckdose zu nehmen. Seit dem Tod der Großmutter war das Haus unbewohnt, denn Mutter Martha starb, bevor sie einziehen konnte. Würde sie einmal hier einziehen, oder Friedrich?
Oder beide, wenn sie Gesichter wie Eidechsen haben würden und steife Knie?
Raise your hopeful voice, you have a choice / You’ve made …
Sie hielt inne. In die plötzliche Stille hinein klingelte es. Sie hatte vor dem Klingeln zu singen aufgehört, als hätte sie etwas geahnt.
Als sie zur Tür hinunterging, war sie nackt.
Vorhin im Kontor war sie schwungvoll mit Friedrichs Schreibtischstuhl ein paarmal rückwärts gegen den alten Tresor gefahren,
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