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Würde - Roman

Titel: Würde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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eines mexikanischen Gerichts. Die alte Frau nickte ermutigend. Der Kloß war schwer, und das Öl schmeckte würzig. Das Innere stellte sich als süßer heraus, als er erwartet hatte - ein perfekter Kontrast. Als Letztes kostete er von den kleinen Ananasringen, die mit Limettensaft besprenkelt waren. Als er aufgegessen und nur noch den leeren Teller mit Öl- und Gewürzflecken in der Hand hatte, nickte die Alte zufrieden und ließ ihn endlich allein.
    »Er ist ein guter Esser«, sagte sie im Vorübergehen zu Abayomi, die zu ihm trat. Im Haus begann Musik zu spielen. Ein tiefer Bassbeat dröhnte aus den offen stehenden Fenstern. Man konnte überall Stimmengewirr und lautes Gelächter hören. Die Party hatte angefangen, und der Lärmpegel nahm rasch zu. Richard sah Abayomi mit hochgezogenen Augenbrauen an.
    »Das hältst du für laut?«, fragte sie lächelnd. »Dann solltest
du mal nach Lagos auf den Markt fahren. Dort haben wir ein Motto: Gba wèrè, ng ògba wèrè, lojà fi nhó. Das ist unsere Art des Handels. Der Käufer erklärt dem Verkäufer: Akzeptiere das - sei töricht und nimm mein Angebot an. Und der Verkäufer antwortet: Nein, akzeptiere du das, sei dumm und nimm meinen Preis an. Deshalb ist es auf dem Markt ständig unglaublich laut, alle rufen durcheinander, beleidigen sich gegenseitig oder lachen. Und manchmal kommt es auch zu richtigen handfesten Auseinandersetzungen. Es ist jedenfalls ohrenbetäubend laut.«
    »Ist das ein Markt für Touristen, wie wir das hier kennen? Oder geht man bei euch wirklich auf den Markt, um täglich frische Waren zu kaufen?«
    »In Lagos gibt es keine Touristen«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Dort auf dem Markt wird alles angeboten, was man so braucht. Wir haben keine Einkaufsmöglichkeiten wie hier, wo alles sauber und ordentlich und teuer ist. Dort ist es sehr preiswert, aber man sollte trotzdem nicht alles kaufen. Verstehst du?«
    Sie standen zusammen im Garten und sahen zu, wie die anderen Gäste ihre Teller füllten. Jemand brachte Bier und Whisky heraus, und die Geschwindigkeit der Musik nahm zu.
    Richard fühlte sich trotz der fremden Umgebung seltsam entspannt. Abayomi reichte ihm ein Glas mit Whisky und einem Stück Eis. Sie wickelte das Tuch ab, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, um es neu zu legen. Gebannt sah er zu, wie ihr die vielen Zöpfchen auf die Schultern fielen. Auf einmal verspürte er das dringende Bedürfnis, sie zu berühren.
    »Weißt du, was mir heute klar geworden ist?«, meinte er. Der Alkohol strömte warm durch seinen Körper. »Ich habe zum ersten Mal etwas verstanden. Keine Ahnung, warum mir das erst jetzt klar geworden ist. Jedenfalls habe ich begriffen, was mir am meisten fehlt: die Neugier. Das ist mein größtes Manko, meine größte Schwäche. Als ich erwachsen wurde, ist mir die Neugier
abhanden gekommen. Es ist nur Misstrauen zurückgeblieben. Und Angst. Ich bin nicht mehr neugierig genug, um die Menschen und Dinge um mich herum verstehen zu wollen. Dich kennengelernt zu haben, hat mir vieles gezeigt«, fuhr er fort und fasste nach ihrer Hand. »Und vor allem, glaube ich, hast du mir das alles gezeigt.«
    Abayomi trat einen Schritt zurück und sah sich nach den anderen Gästen um. Es schien ihr unangenehm zu sein, dass er ihr seine Zuneigung zeigte. Hastig ließ er ihre Hand los.
    »In meinem Land«, meinte sie nach einer Weile, »gibt es eine alte Weisheit: Die Sterne sind immer da; auch am Tag leuchten sie hell. Doch man muss erst die Helligkeit der Sonne verbannen, um sich ihrer Schönheit bewusst zu werden.« Damit trat sie an den Tisch und schenkte ihnen beiden großzügig Whisky nach.
    Er sah ihr zu, während er über ihre Antwort nachdachte. Auf einmal begriff er. Endlich, dachte er. Er hatte ein Leben voller Gleichgültigkeit geführt. Vor seinem inneren Auge sah er sein Dasein als Erwachsener als große Leere vor sich, gelähmt von einer riesigen Angst vor echter Vertrautheit und Intimität. Eine heftige Reue, ja sogar Wut überkam ihn, als er an die vergeudete Zeit und die verloren gegangenen Möglichkeiten dachte. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, endlich eine Einsicht zu haben, die den Lärm und die ständige Ablenkung um ihn herum zu durchdringen vermochte. Es war eine Einsicht, die ihm einen Weg nach vorn weisen und sein bisheriges Leben ändern konnte. Es kam ihm so vor, als würde er noch einmal ins Erwachsenendasein eintreten, diesmal jedoch mit einer neuen Erkenntnis - als ritte er auf dem Kamm einer Welle,

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