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Würde - Roman

Titel: Würde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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begrüßten mich, wie man ein Kind begrüßt. Nur dieser neue
Gast hat seinen Becher auf den staubigen Boden gestellt und ist aufgestanden, als er mich sah. Er trat auf mich zu und begrüßte mich so, als gäbe es nur mich und ihn, als ob sonst niemand etwas zählte. Er nahm meine Hand in beide seiner Hände. Seine Haut hat sich sehr weich angefühlt. Und warm. Wie ein alter wertvoller Stoff. Dann hat er mich gesegnet und sich vorgestellt. ›Ich bin Ken Saro-Wiwa, ein Freund deines Vaters‹, sagte er. ›Es ist mir eine große Ehre, die Tochter deines Vaters kennenzulernen. ‹ Die Augen meines Vaters hatten sich mit Tränen gefüllt.
    An diesem Abend hat meine Mutter für unseren Gast ein besonderes Essen gekocht. Nach dem Essen setzten wir uns ins Wohnzimmer, und Saro-Wiwa hat uns sein neuestes Theaterstück vorgelesen. Ich habe es nicht verstanden, ich war damals noch zu jung. Es war voller politischer Bezüge, die die anderen immer wieder dazu brachten, anerkennend zu pfeifen und zu applaudieren. Ich erinnere mich noch gut daran, wie begeistert mein Vater war. Er war ein stiller Mann, aber an diesem Abend klatschte er immer wieder in die Hände, und sein Gesicht war erhitzt, als ob er neben einem Feuer gestanden hätte.«
    Richard hörte gebannt zu. Abayomi sah ihn nicht an, sondern sprach mit dem Blick auf den Tisch gerichtet, als ob sie eine Beichte ablegte. Ihre Finger umklammerten das leere Orangensaftglas. In ihrer Stimme lag eine große Einsamkeit, obwohl das, was sie erzählte, nicht tragisch zu sein schien.
    »Danach hat mir mein Vater erklärt: ›Das ist der bedeutendste Mann, dem du jemals begegnen wirst, mein Kind. Bewahre diesen Augenblick in deinem Herzen.‹«
    Sie wurde auf einmal ganz still, als müsste sie ihre Kräfte sammeln, um fortzufahren. Als sie Richard schließlich anblickte, stellte er erschrocken fest, dass ihr die Tränen in den Augen standen. »Einige Wochen später sprach Präsident Abacha im Radio«, erklärte sie. »Er nannte Ken Saro-Wiwa einen Staatsfeind
und Verräter. An jenem Tag war ich wie erstarrt. Mein Vater brach fast zusammen. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, wie unberechenbar das Leben ist und wie unfair es sein kann. Unser Präsident verkündete, dass Saro-Wiwa hingerichtet werden würde. Zehn Tage später war er tot, hing am Galgen neben acht weiteren unschuldigen Ogoni-Männern. Es brach meinem Vater das Herz. Möge Gott ihm gnädig sein.«
    Richard wusste nicht, was er antworten sollte, ohne floskelhaft zu klingen. Die Geschichte hatte so gar nichts mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun. Er hegte eine beinahe väterliche Sorge für die Frau ihm gegenüber. »Und warum kehrst du nicht nach Hause zurück? Zu deinem Vater, deiner Mutter?«, wollte er wissen. »Sie vermissen dich doch sicher.«
    »Das kann ich nicht«, erwiderte sie. »Meine Mutter ist vor einiger Zeit gestorben. Sie war krank …«
    »Das tut mir leid … Aber dein Vater … Du solltest deinen Vater besuchen«, erklärte Richard.
    »Ich kann nicht zurück«, entgegnete sie und senkte den Blick. Offensichtlich wollte sie nicht weitersprechen.
    Er ließ es damit auf sich bewenden und saß eine Weile schweigend da, wobei er an seinem kalten Kaffee nippte. »Ich weiß überhaupt nichts über deine Heimat, über Nigeria«, sagte er schließlich. »Weißt du, was mich entsetzt? Nicht, dass so etwas Schreckliches passieren kann, denn so etwas geschieht die ganze Zeit. Überall auf der Welt. Auch hier bei uns. Nein - was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass ich von diesem Mann, diesem Schriftsteller, noch nie etwas gehört habe, dass ein solches Ereignis an mir vorübergeht, ohne dass ich etwas davon mitbekomme, und das, obwohl ich in Afrika lebe. Auf demselben Kontinent und doch Lichtjahre entfernt. Als würde mich das alles nichts angehen.«
    Abayomi nickte. Sie wirkte erschöpft. »Das ist es auch, was
mir an deinem Land auffällt, Richard. Wenn jemand für eine Stunde den Strom abstellt, wenn man einen Richter betrunken in seinem Auto erwischt oder wenn ein Politiker der Bestechlichkeit bezichtigt wird, schreit das ganze Land auf, als würde es im Chaos versinken. Täglich lese ich die Schlagzeilen der Zeitungen, die von Krisen und Katastrophen berichten. Wie kann es täglich eine Krise oder eine Katastrophe geben? Das begreife ich nicht. Meiner Meinung nach seid ihr ein sehr verwöhntes Volk.«
    Trotz ihrer harten Worte blieb ihre Stimme sanft. Es fiel ihm schwer einzuschätzen, wie

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